Über das jüngste Buch von Martin Zweifel: ‹Ein roter Faden durch die Architektur. Architektur als wirksamer Ausdruck der Menschheitsentwicklung› mit einem Übungsteil von Christiane Gerges.
Ob dynamische Formen von Zaha Hadid, gestapelte Wohnblocks von Ole Sheeren in Singapur oder monumentale Großbauten im Dienste von Wirtschafts- und Staatstrukturen des Büros Herzog & de Meuron, die moderne Architektur unserer Tage und ihre Entwicklung seit den 20er-Jahren des letzten Jahrhunderts erweisen sich als ein wahres Labyrinth, ein Labyrinth-Kunstwerk wie das des Dädalos. Wer wäre hier nicht froh um einen roten Ariadnefaden, der hindurch und zu einem sinnstiftenden Ziel führte. Das zweite Buch von Martin Zweifel mit einem Übungsteilbeitrag von Christiane Gerges macht den Versuch zu einer solchen Orientierung im anfänglich betrachteten Chaos zeitgenössischer wie historischer Bauformen.
Wie schon in ihrem gemeinsamen Erstling wird hierbei zunächst von ganz konkreten, praktischen Fragestellungen ausgegangen. Pate steht außerdem Rudolf Steiners Fensterwort zum Schlussmotiv am südlichen, rosafarbenen Fenster im Großen Saal des Goetheanum: «Und der Bau wird Mensch.» Der Ansatz, aus unterschiedlichsten Richtungen dieser Frage nachzugehen, ermöglicht bei der Lektüre einen vielschichtigen und facettenreichen Zugang zum Verständnis der Grundverbindung von Mensch und Bauen.
Stil und Form des Buches sind ungewöhnlich. So erhebt dieses betont keinen Anspruch an Wissenschaftlichkeit. Persönlich Erfahrenes mischt sich mit stimmungsreicher Ortsbeschreibung, mit essayhafter Erörterung allgemeiner Fragen zeitgenössischer Sozialität und Lebensführung. Und man fühlt sich zuweilen an ein Werk der arabischen Adab-Literatur erinnert, die bildreich und kunstvoll Reisebericht mit wissenschaftlicher Abhandlung, Lebensweisheit mit Kunst- und Kulturthemen verbindet. Was dabei entsteht, ist eine frische und lebhafte Aufforderung zum Betätigen der eigenen Gedanken des Lesers, welcher teils mitgeht, teils zweifelt und kritisch hinterfragt, teils sich freut an überraschenden Evidenzen.
Die Anleihe, die das Buch an Rudolf Steiners Grundgedanken, aus dessen Vorträgen, zusammengestellt in ‹Wege zu einem neuen Baustil›, nimmt, welcher die Bewusstseinsentwicklung der Menschheit aus den historischen, bis dahin gegenwärtigen Bauten herleitet und so die Architektur- und Stilentwicklung als eine Sprache und zugleich als Mittel dieser Bewusstseinsentwicklung versteht, ist konsequent weitergeführt bis in unsere Tage. Dabei wird viel selbst Errungenes und Durchdrungenes ergänzt und verständnisverstärkend beigesteuert. So gelingt vor allem im ersten Teil die gedankliche Entwicklung zu den ‹Urbauformen› aus Zelt und Höhle hin zur selbständigen, losgelösten Würfelgestalt meisterlich.
Der zweite Teil, der Übungsbeitrag von Christiane Gerges, erschließt sich nicht auf Anhieb. Doch fällt ihm schon durch seine Mittelstellung Gewicht zu. Dies legt die Vermutung nahe, dass es sich hier um ein inspirierendes Zentralelement handelt, das zum vollständigen Nachvollzug aktives Üben erfordert. Der dritte Teil, welcher sich mit den Folgerungen und Konsequenzen aus dem vorigen beschäftigt, erscheint weniger durchgearbeitet, enthält aber erstaunlich fruchtbar erscheinende Gedanken- und Handlungsansätze für verschiedene Lebensgebiete, wie beispielsweise Städte- und Raumplanung, neue Rechts- und Sozialformen sowie das veränderte menschliche Verhältnis zu Natur und Elementen. Man wünscht sich deren Fortführung und Vertiefung. Im Ganzen legt Zweifel ein spannendes, wenn auch vielleicht nicht ganz ungefährliches Buch vor, das einen wohlmeinenden und zugleich selbständig urteilenden Leser voraussetzt.
Martin Zweifel, Ein roter Faden durch die Architektur. Architektur als wirksamer Ausdruck der Menschheitsentwicklung. KW-Verlag, 2018, 156 S., ISBN 978-3-96354-001-1
Foto: Bahnhof Neapel, Fabrizio Pivari