Das Buch entstand aus Vorträgen einer Tagung zur Apokalypse des Johannes, die im November 2017 durch die Sektion für Schöne Wissenschaften am Goetheanum organisiert wurde. Obwohl die Apokalypse ein Buch unserer Zeit genannt wird, konnte man damals noch nicht wissen, wie die Ereignisse sich seitdem überstürzt haben zur heute weltweiten Coronakrise.
Die Apokalypse des Johannes ist ungewöhnlich aktuell und die Schrift ‹Apokalypse im Ich› erlebe ich als eine Hilfe, um etwas von den Phänomenen und tieferen Gründen der aktuellen Geschehnisse besser verstehen zu können. Rudolf Steiner sah die Johannes-Apokalypse als Ausdruck und Ergebnisdarstellung einer Initiation. Es ist ein Einweihungsbuch. Um die Inhalte zu verstehen, «braucht man das Mittel der Anthroposophie, weil man merkt: Johannes hat die Apokalypse bekommen aus den Regionen, wo die Anthroposophie war, bevor sie zu den Menschen gekommen ist».1 Beide stammen aus demselben geistigen Reich.
Die acht Autorinnen und Autoren erzählen auf unterschiedliche, doch zusammenhängende Art über ihre Forschungen zur Apokalypse des Johannes, zu unserer apokalyptischen Gegenwart und zur Apokalypse im Ich. Dabei wird von Wolf-Ulrich Klünker geschildert, dass die Katastrophenszenarien der Apokalypse nur dann notwendigerweise auftreten werden, wenn der Mensch nicht für seine Entwicklungsaufgabe erwacht. Diese besteht darin, «dass der Mensch eines Tages die elementaren und geistigen Kräfte ergreifen muss, die zuvor vom Engel bzw. von den Hierarchien beherrscht wurden. Falls das Ich diese Berührung der Geistselbst-Sphäre nicht bewusst vollzieht, setzen die katastrophalen Entwicklungen ein, von denen die Apokalypse spricht.»2 Die Engel und die hierarchischen Wesenheiten suchen heute die kleine menschliche Ichkraft, damit gleichsam in ihren früheren Kräften «ein neues menschliches Erleben entsteht, ein neuer menschlicher Wille, der buchstäblich Berge versetzen kann».
Drachenwesen
Auch Mechtild Oltmann sieht die positive, ermutigende Herausforderung der Apokalypse. Für sie ist die zentrale Frage der Gegenwart, doch auch für alle Zukunft: «Wie und durch wen kommt das Gute auf seine Spitze?» Das wird nicht gehen ohne die bewusste Auseinandersetzung mit dem ebenso auf seiner Spitze seienden/kommenden Bösen. Da ist das erste Tier, der Drache. Und da ist das zweite Tier, das Sorat-Wesen, der ‹Pseudoprophet›, der Beherrscher der Unwirklichkeit, der eigentliche Antichrist mit der Zahl 666.
Es hat nur zwei Hörner, sieht zunächst beinahe harmlos aus wie ein Lamm, will im Gewand der Harmlosigkeit erscheinen, ist zu erkennen an der Floskel «das machen doch alle so», vielleicht sogar «ich habe doch nur Befehle ausgeführt». Aber dieser Sonnendämon hat die Sprache eines Drachen und greift zerstörerisch und auf oft sehr subtile Weise die eigentliche Schöpferkraft des Menschen an: das Wort. Es versiegelt den Menschen, der von ihm auf der Stirn im Denken und an der Hand im Willen geprägt wird. Aber die Mitte bleibt frei, das Herz ist durch das Böse offenbar nicht versiegelungsfähig!
Umwenden
Christiane Haid wendet sich gerade an das Herz. Dabei nimmt sie Worte des Johannes als Ausgangspunkt: «Selig derjenige, der die prophetischen Worte zu lesen, und diejenigen, die sie zu hören verstehen, und alle, die das, was in diesem Buche steht, in ihre Seele aufnehmen. Denn es ist an der Zeit.» Mit diesen drei Schichten des Verstehens (Lesen – Hören – Verstehen, in die Seele Aufnehmen) nimmt sie die Lesenden mit im zunehmenden Enthüllen der Bilder, wobei sich allmählich ein Zusammenhang zwischen dem Erkennenden und dem Erkannten bildet, der sich immer mehr verwirklicht. In wunderbar einfühlender und künstlerischer Art beginnen die Bilder der Apokalypse in der Seele zu sprechen, kulminierend in ihrer Beschreibung des «Weib[es] mit der Sonne bekleidet». Aber zuvor muss dasjenige geschehen, was Johannes im Anfang seiner Apokalypse getan hat: eine Umwendung. «Es wird innegehalten und die Richtung gewechselt, bevor die Schau erfolgt. Man kann sich hier auch an den Aufruf Johannes des Täufers erinnern, als er aus der Wüste zurückkehrt: ‹Ändert euren Sinn!›» Wie zutreffend in unserer heutigen Coronakrise.
Die Engel und die hierarchischen Wesenheiten suchen heute die kleine menschliche Ichkraft, damit gleichsam in ihren früheren Kräften «ein neues menschliches Erleben entsteht, ein neuer menschlicher Wille, der buchstäblich Berge versetzen kann».
Der Beitrag von Peter Selg schildert ausführlich den historischen Kontext, worin der Nürnberger Vortragszyklus von Rudolf Steiner über die Apokalypse des Johannes im Juni 1908 stattfand. Außerdem gelingt ihm, aus «Steiners komplexe(n), tiefsinnige(n) und spirituell komplizierte(n) Darstellungen ein intentionales Element freizulegen», eine Gesamtlinie, die den «Willen zur Zukunft» – trotz aller Dramatik – in eine insgesamt ermutigende Perspektive stellt. Für jene, die sich in die sieben ‹Apokalyptischen Siegel› vertiefen möchten, sind die Abbildungen mit erläuterndem Kommentar von Jaap Sijmons im Buch sehr wertvoll. Aus seiner Forschung zur Apokalypse des Johannes als ein Lebensmotiv Rudolf Steiners bringt er die Inhalte der Apokalypse näher. Dasselbe gilt für die Betrachtung von Virginia Sease über das Bild der vierundzwanzig Ältesten in der Apokalypse, das von ihr im Spiegel der Kunstgeschichte behandelt wird. Die Schrift wird abgerundet mit zwei Skizzen von Vicke von Behr und Anand Mandaiker.
Schwellen
Rudolf Steiner nannte die Apokalyse des Johannes also ein Einweihungsbuch. Wahrscheinlich kamen mir deswegen während des Schreibens dieser Rezension in der Coronazeit Gedanken aus den Inhalten der zwei Vorträge, die Rudolf Steiner über alte und neue Einweihungsmethoden gehalten hat: «… die beiden wesentlichen Dinge, auf die es ankam in den alten Mysterien, waren: der Vergessenheitstrunk auf der einen Seite und das Hervorrufen von angstartigen, furchtartigen, schreckartigen Zuständen auf der andern Seite. Der Vergessenheitstrunk bewirkte ja allerdings, dass man die Erinnerung tilgte für alles, was zunächst aus dem gewöhnlichen Erdenleben in dem Gedächtnisse darinnen war.»3 Und jetzt zu unsere Coronakrise: Wie viel Angst gibt es überall und wie viel haben wir nicht auf einmal wie vergessen? Freiheit, Selbstbestimmung, (Grund-)Rechte, Gesetze, alltägliche Gewohnheiten … Könnte es nicht sein, dass wir als weltweite Menschheit unfreiwillig in einer Einweihungs- oder Schwellensituation untergetaucht sind? Und wie kommen wir individuell, miteinander und gesellschaftlich wieder hinaus? Wie stehen wir auf? Es öffnen sich innerlich und äußerlich kräftige Felder zum Bösen und zum Guten. Das Ich entscheidet: Apokalypse im Ich.
Buch Christiane Haid, Jaap Sijmons (Hg.), Apokalypse im Ich, Anthroposophische Perspektiven auf die Apokalypse des Johannes. Verlag am Goetheanum, Dornach 2019