Meine soziale Identität ist eine Hülle, in der mein Ich wirksam werden kann. Meine Zugehörigkeit zur westlichen Welt bestimmt die Art dieses Wirksamwerdens. In Verantwortung für die gesamte Menschheit kann daraus eine notwendende Motivation und Handlung werden.
Auf der Weltkonferenz 2023 sagte William J. Choi-Gekas, ein Kanadier mit koreanischem und indigen nordamerikanischem Kulturgepräge, der im Friedensforum über seine Initiative berichtete, einen Satz, welcher mir endlich eine Verständnistür öffnete. «Taking ownership of your social identity connects to what should be done in the world.» Zu Deutsch so in etwa und als meine kleine Einleuchtung: «Nimm die Verantwortung, die mit deiner sozialen Identität einhergeht, und verbinde sie mit der ganzen Welt».
Ich hadere bei der Cancel-Culture-Debatte und Fragen zur kulturellen Aneignung immer ein wenig mit dem ‹Druck-Duktus›, dass ich mich für meine vielleicht auch nur zufällige Geburt im ‹weißen und privilegierten› Europa selbst verurteilen solle. Es ist schwer, für diesen Diskurs eine Sprache zu finden oder sich überhaupt darüber bewusst zu werden, ohne sich angegriffen zu fühlen. Zumindest fühlt es sich so an für mich, dass ich zum System der ‹Unterdrückenden› gehöre und das endlich einsehen soll. Aber als Individuum reduziere ich nicht Menschen auf ihre Hautfarbe, ihr Geschlecht, ihre psychischen und physischen Bedingtheiten oder ihre Bildungs- und Finanzverhältnisse. Jedenfalls nicht bewusst, vorsätzlich oder mit Absicht. (Und auch ich möchte in meinen Werdeprozessen liebevoll angeschaut werden.) Ich war doch auch nicht Teil eines Kolonialsystems, das dazu führte, dass noch heute Kinder im Kongo in Coltanminen arbeiten, damit ich hier alle zwei Jahre ein neues Handy kaufen und das alte in den Ozean schmeißen kann, was ich auch gar nicht tue. Und doch bin ich Teil eines Systems, das zumeist aus Wirtschaftsprofit verachtende Narrative geschrieben hat, um zu legitimieren, Menschen anderer Kulturen auszubeuten. Damit ging einher, ihr heiliges Wissen, ihre ‹Gottverbundenheit›, ihre Ontologien, ihre inneren Schätze zu leugnen und ihre äußeren zu rauben. Neben Goethe und Schiller ist meine europäische Kultur von Weltbildern und Menschen beeinflusst (gewesen), die sich in Selbstüberschätzung den Zugang zu anderen Erkenntnisquellen verbauten, die Indigene als unzivilisiert erklärten und sich selbst den Namen ‹Mensch›, mitunter auch ‹Übermensch›, gaben. Außerdem und wohl erstrangig haben sie sich jedoch an den Menschen anderer Kulturen bereichert. Und ja, aus einem Machtgefälle heraus.
Qualitäten wahrnehmen
Diese Zugehörigkeit zu einem europäisch geprägten System, das eine Geschichte zu verantworten hat, ist meine soziale, vielleicht auch historische Identität. Tatsächlich. Sie ist wie eine Schicht von mir, die als Tatsache aufgefasst werden muss. Sie ist jedoch nicht meine einzige Identität. Ich habe weitere Schichten von Sein, wie auch immer man diese nennen würde, auf anderen Bewusstseinsebenen. Bis eben dahin, dass ich eine Gattung für mich bin, wie auch du. Das wurde mir deutlich an der Formulierung von William J. Choi-Gekas. Das wirkte wie eine Befreiung, auch für die Verantwortungsübernahme, welche sich aus meiner sozialen Identität generiert. Gerade weil ich auch eine Ich-Identität habe oder eine Persönlichkeit oder einen freien Willen, sehe ich in meiner sozialen Identität nicht mehr meine allein gültige, die sich angegriffen fühlt, wenn sie als eurozentristisch oder privilegiert ‹gebrandmarkt› wird. Denn ja, das bin ich.
Verantwortung ist ein Beziehungsphänomen. Im sozialen, auch im globalen Organismus bringen unterschiedliche Menschen ihre unterschiedlichen Fähigkeiten ein. Warum sollte das nicht auch auf unsere sozialen Identitäten zutreffen. Was ist die soziale Verantwortung und auch die Fähigkeit von Afrika, die es für das und ins Weltenganze übernimmt und hineinträgt? Wenn ich hier eine Antwort wage, dann nur, um das Phänomen zu verdeutlichen, nicht um eine Wahrheit zu verkünden, denn die kann nur aus afrikanischen Kulturen und deren Schaffenden selbst kommen. Meine Antwort hätte die Form einer Frage: Könnte durch die afrikanischen Kulturen der Wärmepol, die Gemeinschaft gestärkt werden? Darin erlebe ich eine Stärke von Afrika, die mir in Europa fehlt. Oder was trägt die soziale Identität von Menschen aus Asien ins Ganze? Mein Sohn beschrieb mir neulich Indonesien als ein freudiges Land. Die Menschen seien sehr herzlich zu Fremden und zueinander. An welche Wesensschicht des Menschseins rührt die Verantwortung meiner eigenen sozialen Identität als Europäerin? Vielleicht an eine Qualität wie Selbstbefragung auf der einen Seite, womit ich nicht sagen will, dass Menschen aus anderen Kulturen nicht reflektierend sind. Vielleicht andererseits auch an die Fähigkeit, Fragen zu stellen. Wofür wollen wir uns aus unserer sozialen Identität als Europäerinnen und Europäer denn engagieren für die ganze Menschheit? Welche Strukturen wollen wir bauen, weil wir sie aus wirtschaftlichem Machtgefälle heraus bauen können, damit das Wohl aller, auch das der Natur, leben kann? Verantwortungsübernahme aus meiner sozialen Identität heraus adelt mich auch als Ich, weil ich meine Inkarnation dann doch ernst nehme, ohne mich mit ihr völlig zu identifizieren.
Ich für meinen Teil bin seit meinem Erlebnis auf der Suche nach einer Sprache, die Polarisierung überwindet, die nicht Schuld zuweist. Vielleicht bin ich auch auf der Suche nach einem Gespräch statt einem Diskurs.
Titelbild Der amtierende König der Konso (Äthiopien) und unsere Redakteurin Gilda Bartel. Die Terrassenlandwirtschaft und Baukultur der Konso gilt als Weltkulturerbe auf der Liste der Unesco. Von ihren hölzernen Grabstelen, die bedeutenden Persönlichkeiten gewidmet wurden und werden, finden sich heute die meisten in europäischen Museen. Foto: Privat, im Jahr 2019.