Anthroposophische Ärzteausbildung in ihrer Geschichte

Weil sich Menschen für etwas interessieren, was es noch nicht gibt, weil sie Mangel erleben und darüber sprechen, weil sie eine Geistfamilie bilden, beginnt Anthroposophische Medizin zu existieren – überall.


Foto: Ariane Totzke

Unsere Medizin ist noch im Werden und ein Kind der ‹Unzufriedenheit›. «Zufrieden, da wäre ja geholfen, wo ein Gott nicht helfen kann», sagte Novalis. Aus dem Erleben der Unzufriedenheit heraus Frieden suchen, aus dem noch nicht Geschaffenen selbst schöpferisch werden, wie lernt man das? Wenn ich Ansprüche habe, bin ich gefragt, diese Ansprüche einzulösen und Unzufriedenheit in Aktivität umzuwandeln. Durch Begegnung und Gespräch bin ich seinerzeit auch in die anthroposophisch-medizinische Bewegung hineingewachsen. Ausbildungen in Anthroposophischer Medizin gab es in meiner Studentenzeit noch nicht. Wir haben uns ausgebildet, indem wir uns selbst die Menschen suchten, von denen wir lernen wollten und die unsere Fragen beantwortet haben. Im Manifest, das im Anschluss an den ersten Medizinerkurs verfasst wurde, heißt es: «Durch diesen Kurs sind grundlegende Erkenntnisse im ganzen Gebiet der medizinischen Wissenschaften und Anweisungen für erfolgreiche diagnostische, therapeutische und sozialhygienische Arbeit von solcher Tragweite in die Welt gestellt worden, dass es geradezu als Zentralaufgabe der Gegenwart auf dem Gebiet der medizinischen Arbeit angesehen werden muss, durch Schaffung eines medizinisch-wissenschaftlichen Arbeitsinstitutes, das dem Goetheanum in Dornach angegliedert sein und unter fachmännischer Leitung stehen soll, eine Stätte zu schaffen, an der systematisch und intensiv auf geisteswissenschaftlicher Grundlage gearbeitet werden kann.» (S.10 in: Zum 70. Geburtstag der Klinisch-Therapeutischen Institute in Arlesheim und Stuttgart 1921–1991. Dornach 1991). Es entstand ein Netzwerk von begeisterten Menschen, die an einer neuen medizinischen Kultur arbeiten wollten. Rudolf Steiner hat mit der Weihnachtstagung die medizinische Sektion begründet und ihr eine Aufgabe gegeben, nämlich das medizinische System der Anthroposophie auszuarbeiten. Als ich an das Goetheanum gerufen wurde, daran mitzuarbeiten, habe ich mich gefragt, wie ich diese anthroposophische medizinische Bewegung fördern kann. Eine Leitungsaufgabe war für mich eine Begleitungs- und Unterstützungaufgabe. Im ‹Pastoral-Medizinischen Kurs› heißt es ‹Koordination› und nicht ‹Subordination›. Arzt und Priester sind einander koordiniert. Jeder leitet durch sich etwas hindurch, womit er andere begleiten kann. Und wir sind alle einander koordiniert. Deswegen heißt unser Leitungsgremium ‹Internationale Koordination Anthroposophische Medizin›. Die damit verbundene Aufbauarbeit war nur möglich, weil immer wieder Menschen kamen, die unzufrieden waren, Neues wollten. Meine Aufgabe war es dann, nach Möglichkeiten zu suchen, dass das produktiv werden konnte. Im Laufe der Jahre hatten sich in Deutschland und der Schweiz Ausbildungsstätten etabliert und es kam die Frage, ob das Goetheanum noch eine anthroposophische Ärzteausbildung brauche beziehungsweise in welchen Länder sie nötig wäre. Das waren zunächst Polen, die Baltischen Länder und die Philippinen. In der Zusammenarbeit mit diesen Ländern ist dann das Ausbildungsprogramm ‹ipmt› (International postgraduate medical training ) entstanden, charakterisiert durch Praxisbezug, innere Schulung, Eurythmie und Naturbeobachtung in Form einer jährlichen Intensivwoche. Als die ersten fünf Jahre vorbei waren, war klar, dass man in fünf Jahren – der Ausbildungsdauer – sich noch nicht überall fit für ein Abschlusszertifikat fühlte. Manche sagten sogar, sie müssten noch einmal fünf Jahre machen – sie hätten ehrlich gesagt noch nicht viel verstanden. Ich fragte sie, warum sie denn dann wieder gekommen seien, wenn sie nicht viel verstanden hätten. Ihre Antwort: Weil es menschlich so schön und intensiv und warmherzig war, wie sie es noch nie zuvor erlebt hatten. Diese Geistfamilie zu erleben, wurde als Kraftquelle erfahren. Tatsächlich wurden wir im Lauf dieser ersten zehn Jahre eine internationale Gemeinschaft von motivierten, fragenden, therapeutischen Brüdern und Schwestern in 32 Ländern. Hier habe ich gelernt, dass die Anthroposophie international ist. Sie verträgt sich mit jedem anderen spirituellen Medizinsystem. Sie ist ein Augenöffner. Wo immer man über Patienten, über Menschenkunde ins Gespräch kam, kam man schnell zur Sache selbst. Anthroposophie ist ein Schlüssel zum Verstehen. Man kann alles ‹anthroposophisieren›, indem man es mit dem Menschen in Verbindung bringt.

Print Friendly, PDF & Email

Letzte Kommentare