Anthroposophie und Wissenschaft

Wenn man die Wissenschaftlichkeit der Anthroposophie untersucht, entstehen unweigerlich Fragen. Andreas Heertsch führt anschaulich durch die Verwandtschaften und die Differenzen, denen man begegnet, wenn man Anthroposophie als Geisteswissenschaft mit der heute üblichen Naturwissenschaft vergleicht.


Patzig

In meiner Studentenzeit besuchte ich ein Seminar über Spinozas Ethik. Der mit dem jüdischen Bannfluch belegte Brillenschleifer aus dem 17. Jahrhundert war von der Mathematik und ihrer Klarheit so überzeugt, dass er seine Ethik wie ein Geometriebuch verfasste. In diesem Seminar fragte also der Professor – er hieß ausgerechnet ‹Patzig› und war ein Vertreter der formalen Logik –, was denn ein Axiom sei. Da ich bereits einige Semester Physik und Mathematik hinter mir hatte, konnte ich mir nicht verkneifen, als Fachfremder trotzdem zu antworten: «Ein Axiom ist ein nicht weiter begründbarer Satz, der durch sich selbst evident ist.» Zu meiner Überraschung entgegnete Patzig süffisant lächelnd: «Ach, da sind wir uns doch wohl im Klaren, dass die Evidenz zu den überwundenen Dingen gehört.» Dieses Gelächle ärgerte mich natürlich, so entgegnete ich brüsk: «Das kann ja wohl nicht sein: Sie würden ja nicht mit mir reden, wenn sie das, was Sie sagen, nicht für evident halten!» Er fühlte sich leider überhaupt nicht ertappt: «Nein, wir glauben nur, dass das stimmt, was wir sagen.» Aber nun wurde er herablassend: «Lesen sie mal Krings: Handbuch der philosophischen Begriffe – dann unterhalten wir uns weiter!» Mittlerweile was ich so erbost, dass ich mir tatsächlich den Krings gekauft habe. Und da findet man unter ‹Evidenz›, dass diese nicht zu den philosophischen Begriffen gehöre. Der von Rudolf Steiner so verehrte Franz Brentano hat hier den Kahlschlag durchgeführt: Evidenz (eben jene unmittelbare Klarsicht) könne man nicht beweisen, weil der Beweis ja evident sein müsste. Das ist aber in der Philosophie als Tautologie verboten: Ich kann nicht etwas beweisen (Evidenz), was ich vorher in den Beweis schon hineingesteckt habe (Evidenz soll evident sein).

Damit zeigt sich die Evidenz als Basis aller Verstandestätigkeit: Sie ist der Maßstab, an dem der Verstand seine Urteile prüft. Er ist aber nicht in der Lage, diese Evidenz selbst zu untersuchen. Hört damit alle Erkenntnissicherheit auf? Patzig würde hier sagen: «Ja, die Welt ist nicht direkt zugänglich. Es ist nicht einmal sicher, dass es diese Welt, von der ich spreche, wirklich gibt. Aber ich glaube daran.»

Von der Intuition kann man nur erzählen. Evidenzbegründend kann sie nur unter vollster Beteiligung des Erkennenden sein.

In meinem Ärger verfasste ich also ein Traktat, wie die Welt wieder wirklich werde, indem ich zunächst auf Brentano als Totengräber der (Verstandes-)Philosophie einging und dann auf die einfache Tatsache hinwies, dass ich, wenn ich denke, wisse, dass ich denke – und dass es krank wäre, wenn ich daran zweifelte. Ich hätte vielleicht noch auf Augustinus verweisen sollen, der gegen die zeitgenössischen Skeptiker (die kurzerhand alles infrage zu stellen gewohnt waren) argumentierte, dass sie zwar an allem zweifeln können, aber nicht daran, dass sie zweifeln.

Patzig gab das Traktat zurück: Die Ausführungen über Brentano seien interessant, der Rest aber sei keine Philosophie, sondern Psychologie! Manche Lesenden werden fragen: Wozu der Lärm? Tatsächlich liegt hier der eigentliche Knackpunkt, warum Anthroposophie als nicht wissenschaftlich gilt.

Was Anthroposophie und (Natur-)Wissenschaft gemeinsam ist

Beide Wissenschaften sind Erfahrungswissenschaften, die die gewöhnliche Erfahrung mit Hilfsmitteln erweitern: Bei den Naturwissenschaften spricht man von Messgeräten, bei der Anthroposophie von übersinnlichen Organen. Genauso wie Messgeräte für immer neue Messgrößen (Gewicht, Spannung, Geschwindigkeit usw.) mit immer größerer Empfindlichkeit entwickelt werden, genauso sind die inneren Organe für immer neue Erfahrungsgebiete (Lebenswelt, Geisteswelt usw.) zu entwickeln. Und genauso wie die Messgeräte mit zunehmender Empfindlichkeit auch anfangen, zu rauschen (sie ‹messen› ihre selbsterzeugten Störungen), so müssen auch die inneren Organe erzogen werden, dass sie wahrnehmend bleiben und nicht nur die eigenen Wünsche und Vorstellungen ‹wahrnehmen›. Die auf diese Weise gewonnenen Ergebnisse (bei der Anthroposophie sprechen wir hier von Inspirationen und Imaginationen; bei den Naturwissenschaften von Entdeckungen und Modellen) müssen von beiden Wissenschaften in ein Evidenzgewebe (in der Naturwissenschaft Theorie genannt) eingebettet werden. Wenn diese Einbettung noch nicht gesichert ist, heißt es in der Naturwissenschaft Heuristik und in der Anthroposophie: am Leben bewahrheiten.

Warum Anthroposophie als Wissenschaft so angegriffen wird

Dreißig Jahre nach meinem Studium machen wir mit Dorian Schmidt im Goetheanum-Zweig ein Seminar über das Wahrnehmen von Bildekräften. Wir stehen in der Nähe eines Kirschbaums und sind aufgefordert, unsere Eindrücke zu schildern. Die Freunde und Freundinnen erzählen von allerlei Elementarweseneindrücken, die sie an Gesten des Kirschbaums ‹festmachen›. Im Zuhören kann ich diese Eindrücke durchaus teilen, merke aber gleichzeitig mein Kopfschütteln: Ist doch bloß Einbildung! Erstaunlicherweise fördert Dorian Schmidt diese Eindrücke. Da ich ihn auf diesem Gebiet aufgrund seiner bewusstseinsphänomenologischen Schilderungen für kompetent halten muss, bekommt plötzlich mein durch das Physik-Studium antrainierte Weltbild Schlagseite: Und wenn es keine Einbildung wäre?

Also gut – mal hypothetisch: keine Einbildungen, sondern Bildungen, deren Quellen ich bisher diskreditiert habe? Sofort geht die ganze Litanei von Einwänden los: Und wie bist du sicher, dass du dir nicht einfach nur wünschst, ein Elementarwesen zu sehen?

Hier sagt der Naturwissenschaftler in mir Stopp! Naturwissenschaft ist die Antwort auf die voraufklärerische Zeit, in der Aberglaube und Hexenverbrennung ‹wissenschaftsfähig› waren. Damals wurde alles Mögliche aus dem Inneren gezaubert mit den bekannten verheerenden Folgen. Das kann’s ja wohl nicht sein! Damit öffnet der Naturwissenschaftler die große Lade mit dem Etikett Spiritismus und will sich auf keine weitere Diskussion mehr einlassen.

Heute würde ich provozieren: Feiglinge! Anstatt die inneren Erfahrungen zu disziplinieren (oder im Jargon zu ‹entstören› und zu ‹kalibrieren›), behaupten sie: Da kommt nur Aberglaube und Spuk heraus. Das Problem ist hier, dass die Disziplinierung moralischen Charakter bekommt: Ich sollte mich doch hüten, über Lebensprozesse Aussagen zu machen, solange ich mich in jede schöne Frau (für deren Lebensprozesse meine wachsende Sensibilität empfindsam wird) verliebe. Diese Art der Disziplinierung ist für den Naturwissenschaftler ungewohnt, weil er plötzlich nicht mehr nur in seinem Verhältnis zur (gegenständlichen) Außenwelt Ordnung schaffen muss, sondern die Front plötzlich nach innen verlegt wird. Und da ist ein ganzer Zoo von schrägem Verhalten zu Hause (Doppelgänger). Dem zu begegnen ist unangenehm, ja Angst einflößend und das Missachten dieser Hürden (Hüter der Schwelle) führt sozial schnell zu Chaos. Also lieber nicht! Das wird nicht immer bewusst, deshalb stehen alle Abwehrsysteme kampfbereit: Das ist alles Einbildung – Spinnerei! Dabei sind Naturwissenschaftler und Naturwissenschaftlerinnen geradezu geschult, ihre Antenne auf die Wirklichkeit abzustimmen. Die Entwicklung hat gerade an der Natur ein Gefühl für die Wahrheit (Evidenz) hervorgebracht: Die Natur korrigiert unerbittlich – die falsch berechnete Brücke stürzt tatsächlich ein.

Wieso Anthroposophie gewisse Grundannahmen der Philosophie über den Haufen wirft

Die oben geschilderte Evidenzerfahrung wird von der Anthroposophie als Intuition bezeichnet. Sie geht über die üblichen Erkenntnisverfahren (Imagination, Ins­piration) hinaus. In der Intuition werden der Erkennende und das (der) Erkannte eins: In Identifikation, Empathie und Einigkeit mit dem Erkannten gibt es nichts Trennendes, das Unsicherheit begründen könnte.

Eine einfache Intuition ist die des eigenen Ichs. Man kann sie durch eine kleine Übung herbeiführen: Man sehe zunächst von allem ab, was nicht (gewöhnliches) Ich ist. Dann verschwindet alles, auf das man zeigen kann (ich bin der Zeiger), also die Welt, es verschwindet alles, was man hat (Unterschied zwischen habituell und essenziell). Übrig bleibt nur meine gerade ausgeführte Tätigkeit, mein unmittelbares Erfahrungswissen, dass ich mich jetzt erlebe als den, der tut und darum weiß.

Diese Intuitionsverfassung ist nicht nur auf das Innesein des eigenen Selbstes beschränkt, es kann sich auch empfänglich machen für ‹anderes›. In der zeitgenössischen Philosophie wird hier gern von Ich-Perspektive gesprochen, wobei Perspektive nur eine Veranschaulichung der Intuition ist. Sie ist fähig zur Wesenserkenntnis, weil sie am Zustandekommen des Einander-Inneseins realitätsbegründend beteiligt ist.

Das Problem in der Charakterisierung der Intuition liegt darin, dass man von ihr nur erzählen kann. Evidenzbegründend kann sie nur unter vollster Beteiligung des Erkennenden sein – und das muss jeder selbst machen. Es ist eben eine Erkenntnis, die im (wachen) Wollen vollzogen wird: «Nicht mein Wille – dein Wille geschehe (in meinem Wollen)».

Wenn man diese Erkenntnisform (Intuition) weiter verfolgt, ergeben sich Forschungsfelder, die der Naturwissenschaft verborgen bleiben. Während Naturwissenschaft – gewissermaßen alttestamentarisch: Es gibt einen einzigen Gott – nach immer grundlegenderen Gesetzen sucht, die das Besondere in den Rahmen des Allgemeinen stellten, notfalls mit Statistik, kann Anthroposophie das Besondere schätzen und so einen Weg zur Wesenserkenntnis erschließen. Hier kommen dann auch in der Naturwissenschaft eher weniger gebräuchliche inspirative Verfahren wie das Lesen im Buche der Natur und des Lebens zur Anwendung.

Was Intuition auszeichnet, ist, alle Trennungen überwinden zu können.

Da das Besondere der Intuition in ihrer Überwindung aller Trennungen liegt, kann verständlich werden, dass sie Wahrheit realisiert. Aber dagegen läuft die konventionelle Erkenntnistheorie Sturm. Sie lebt, wie es Patzig ausdrückte, im ‹Als-ob›. Das ist der Preis, den sie zahlen muss, wenn sie sich nicht auf den Ansatz des deutschen Idealismus (hier besonders Fichte) einlässt und die Ich-Perspektive als gültiges Erkenntnisverfahren zulässt. Hier setzt Anthroposophie an und entwickelt diesen Ansatz weiter. Allerdings stellt sie an die Erkennenden (ziemlich weitgehende) Anforderungen, denen sich verständlicherweise nicht alle stellen wollen.


Bild Flammarions Holzstich oder Wanderer am Weltenrand, Ursprung unbekannt, Ersterscheinung 1888. Bunte moderne Version. Quelle: Wikimedia/Houston Physicist, CC BY-SA 4.0.

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