Anthroposophie als tägliche Inspiration

Sekem zählt zu den erfolgreichsten Unternehmungen, die aus Anthroposophie inspiriert, eine eigenständige Identität entwickelt haben und so nun selbst zur Inspiration für die anthroposophische Kulturarbeit geworden sind. Ein Gespräch mit Helmy Abouleish.


Wie geht es Sekem?

Helmy Abouleish Für die schwere Zeit, in der wir alle leben, geht es uns sehr gut. Wir sind in einem Entwicklungsstrom, den ich, den wir hier jeden Tag dankbar beobachten.

Du gibst an der World Goetheanum Conference einen Beitrag zum Wirtschaftsleben. Klimakrise und Artenrückgang, diese ökologischen Herausforderungen rufen vor allem nach einem Wandel unserer Ökonomie, unserer Art zu wirtschaften – oder?

Ich glaube, es lohnt sich, noch einen Schritt weiter zurückzugehen: Es geht um ein neues Bewusstsein, eine Veränderung des Bewusstseins, das sich dann im Wirtschaftsleben als neue Art zu Handeln durchsetzen muss. Solange unsere gewohnte Art zu denken, unsere Verstandesseele mit ihrer Ausprägung im Kapitalismus, im Wirtschaftssystem, die Oberhand hat, muss man sehr, sehr, sehr smart sein, um Lösungen zu finden, die es auch in einer Verstandesseelenkultur erlauben, nachhaltig umzugehen mit den Ressourcen. Wenn wir auf die Quelle, den Ursprung unseres Handelns und Verstehens zurückgehen, dann stoßen wir auf unser Bewusstsein und die Bewusstseinsentwicklung, das ist der Kern unserer menschlichen Entwicklung. Im momentanen Umfeld, in dem wir sind, und mit der Ausprägung unseres heutigen Bewusstseins herrscht natürlich eine ausbeuterische, kapitalistische wirtschaftliche Weltsicht vor, die uns all das beschert hat, was wir heute an Bequemlichkeit und auch an Bedrohung unseres Lebens kennen.

Da ist dein Schlüssel eine geschwisterliche Ökonomie, eine ‹Economy of Love›?

Ja, natürlich. Das ist ein gutes Beispiel dafür, dass man das von verschiedenen Bewusstseinsstufen aus anschauen kann und muss. Ich denke, aus einer Bewusstseinsseelenhaltung, also einem ganzheitlichen Denken, das sich seiner selbst bewusst ist, würde man sicher verstehen, dass eine auf Liebe fußende Wirtschaft viel effizienter, produktiver, ja sogar profitabler sein muss als ein ausbeuterisches kapitalistisches Wirtschaftssystem. Aber das wird sich auch aus ideologischen Gründen nicht so schnell durchsetzen, wenn die Bewusstseinsentwicklung nicht in gleichem Maße mitwächst. Dafür ist Bildung und auch Zeit nötig, denn das alte Denken von Konkurrenz und Kampf steckt tief in unserem Organismus. Deshalb ist das, was wir jetzt mit Sekem entwickelt haben, als Wirtschaft der Liebe natürlich auch ein Versuch, in der Sprache der heutigen Marktwirtschaft einen Schlüssel zu finden, der beweist, dass das, was wir tun, effizienter und profitabler und produktiver ist als das, was viele sogenannte kapitalistische Firmen tun. Wir zeigen ja, dass man mit biologisch-dynamischer Landwirtschaft günstiger sein kann als mit konventioneller Wirtschaftsweise, wenn man die Ökosystemdienstleistungen und die sozialen Dienstleistungen eines Bauern vergütet. Das ist jetzt möglich, weil heutzutage die Klimakrise so groß geworden ist, dass Kohlenstoffzertifikate auf einmal einen nennenswerten Preis haben. Da spielt es ganz ökkonomisch eine Rolle, ob ich co₂ durch Kompostierung in den Boden bringe oder in die Luft blase. Das ermöglicht uns, biologisch-dynamische Produkte zu konventionellen Marktpreisen zu verkaufen und trotzdem ein besseres Einkommen zu haben.

Diejenigen, die jetzt die Gewinne abschöpfen, wollen naturgemäß ihre Privilegien nicht verlieren. Transformation bedeutet ja auch immer Transformation von Privilegien. Das ist aber dann keine Sache der Liebe, sondern da geht es dann doch auch um Auseinandersetzung – oder?

Diejenigen, die jetzt im Moment die Erfolgreichen und die Profitablen sind, geben ihre Privilegien nicht gerne ab, das kann man aus der Verstandeshaltung verstehen, wo es eigentlich nur um meinen eigenen Nutzen geht und nicht um den Nutzen des anderen, der Gesellschaft oder sogar der ganzen Welt. Dass sie nicht einfach das Feld uns überlassen und sagen: «Hey, macht ihr mal was Besseres», das erleben wir jeden Tag. Was wir jetzt vorschlagen, geschieht in einer Sprache, die auch in dieser Welt funktioniert, nämlich zu zeigen, dass sinnvolles, nachhaltiges Handeln konkurrenzfähig ist, um so die marktwirtschaftlich ausgerichteten Firmen und Menschen mit ihren eigenen Mitteln zu schlagen. Das ist sicherlich nur eine Durchgangsstufe. Das ist nicht das eigentliche Ziel, dass man biologisch-dynamische Produkte über Kohlenstoffzertifikate vergünstigt. Es geht im Weiteren ja darum, dass die Kundinnen und Kunden aus Einsicht die ökologischen Produkte kaufen und auch bereit sind, den gerechten Preis dafür zu zahlen. Davon sind wir noch weit entfernt. Über 90 Prozent kaufen keine biologischen oder genossenschaftlichen Produkte.

Du wählst für diese Beschreibung anthroposophische Begriffe. Inwieweit, frage ich noch mal allgemein, ist bei dieser deiner Kulturarbeit und Wirtschaftsarbeit Anthroposophie ein Werkzeug?

Ein ganz Entscheidendes, und zwar von Anfang an. Anthroposophie war eines der wichtigsten Mittel, mit denen mein Vater erst alleine und dann mit einer ganzen Gemeinschaft versucht hat, die Welt besser zu verstehen und zu ergreifen, inklusive des Islam als die Religion, die natürlich in unserer Region hier 85 Prozent unserer Mitbürger und Mitbürgerinnen betrifft. Grundlegende Inspirationen kommen aus der Anthroposophie und dann ist Dreigliederung des sozialen Organismus von Bedeutung, ebenso integrative Medizin oder assoziatives Wirtschaften.

Letzten Herbst war ich in dem Begräbnisbau, der an deinen Vater, den Gründer von Sekem, erinnert. Wie präsent ist er?

Er ist immer da, immer in unserem Bewusstsein, immer nahe mit seiner Motivation, seiner Inspiration und bei vielen Menschen immer noch sehr lebendig. Ich denke, er hilft, so gut er kann, und zieht, was er kann, aus der Zukunft. Und wir nutzen diese Möglichkeit auch für das Zwiegespräch mit ihm, genau an der Stelle, an der du warst – eigentlich jede Woche. Also ich zumindestens und viele andere sogar noch öfter. Er ist noch sehr lebendig, aber er lasst uns natürlich frei und vieles von dem, was wir heute tun, tun wir aus unserem eigenem Antrieb und aus eigener Motivation und Inspiration. Ich denke, das ist genau in seinem Sinn.

Die Anthroposophie wird international und überwindet die eurozentrische oder deutschzentrische Prägung. Gibt es eine afrikanische Anthroposophie? Wie wird die afrikanische Inspiration zur Anthroposophie aussehen?

Wenn ich durch die Welt reise, ob in Südamerika, Asien oder in Afrika, erlebe ich, dass natürlich auch die Anthroposophie in jedem Kulturbereich, in jedem Kulturkreis sich anders ausgestaltet, sich anders ausprägt und dann auch anders wieder zurückwirkt nach Europa. Und ich denke und hoffe sehr, dass das auch der Entwicklungsarbeit in Europa nutzt und sie inspiriert und umgekehrt. Es gibt ‹Sekem› wegen des anthroposophischen Netzwerks und der Inspiration aus der ganzen Welt, die wir in den letzten 46 Jahren hatten. Ich denke, das ist an sich gegenseitiges Verstärken und gegenseitiges Stützen und Helfen, was alle notwendig haben, denn wir können heute keine Probleme der Welt mehr allein lösen.

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