Über die Hintergründe des ‹Fragebogens› 1892.
Einer der Freundeskreise, denen Rudolf Steiner in Weimar angehörte, bildete sich um das frisch verheiratete Ehepaar Hans und Grete Olden: «Sie versammelten einen geselligen Kreis um sich, der ‹Gegenwart› leben wollte, im Gegensatz zu allem, was wie die Fortsetzung eines vergangenen Lebens in Goethe-Archiv und Goethe-Gesellschaft den Mittelpunkt des geistigen Daseins sah. In diesen Kreis wurde ich aufgenommen; und ich denke mit großer Sympathie an alles zurück, was ich in ihm erlebt habe. – Man konnte seine Ideen im Archiv noch so stark versteift haben an dem Mit-Erleben der ‹philologischen Methode›; sie mussten frei und flüssig werden, wenn man in Oldens Haus kam, wo alles Interesse fand, was sich in den Kopf gesetzt hatte, dass eine neue Denkweise in der Menschheit Boden gewinnen müsse; aber auch alles, was mit Seelen-Innigkeit manches alte Kultur-Vorurteil schmerzlich empfand und an Zukunfts-Ideale dachte.»1
Hans Olden (1859–1932) war zunächst Schauspieler gewesen und betätigte sich jetzt als «Verfasser leichtgeschürzter Theaterstücke», hatte aber «ein offenes Herz für die höchsten Interessen, die zu dieser Zeit im geistigen Leben vorhanden waren»2. Und auch seine (zweite) Frau Grete (1860–1933) hatte sich auf dem Feld der leichten Theatermuse schon betätigt: Sie hatte nämlich mit ihrem ersten Ehemann Paul von Schönthan und dessen Bruder Franz zusammen 1883 das berühmte, über Jahrzehnte erfolgreiche Lustspiel ‹Der Raub der Sabinerinnen› verfertigt. Außerdem war sie die Lieblingsnichte des einflussreichen Journalisten, Schriftstellers und Theaterleiters Paul Lindau, der – unter anderem – ebenfalls populäre Stücke geschrieben hatte.
Noch als Grete von Schönthan hatte sie im Januar 1889 ein Album begonnen: «Erkenne Dich selbst! Gedenkalbum zur Charakteristik der Freunde und Freundinnen», als gedruckte Vorlage herausgegeben von Friedrich Kirchner, der, wie er schreibt, dieses Gesellschaftsspiel in England kennengelernt hatte. Es sollte dem Studium der Menschen dienen, aber nicht auf falschem Wege: «Lavater trieb Physiognomie, Gall Schädellehre, Andere suchen aus der Handschrift, noch Andere aus der Photographie den Menschen […] zu enträtseln. Junge Menschen halten sich ein Stammbuch, worin sie sich ihre […] Jugendfreundschaften durch meist herzlich fade, sentimentale und unwahre Poesie verewigen lassen.» Jetzt aber sollte sich ein neuer Weg der Menschenerkenntnis auftun: «Wer von Deinen Freunden […] die nachstehenden fünfundzwanzig Fragen beantwortet, der hat dadurch eine Generalbeichte abgelegt, wie sie umfangreicher und wahrer kein Inquisitor durch Schrauben und Zangen entlocken könnte. Denn die Fragen bestürmen den Freund so neugierig und zugleich so geschickt, daß er seine Gefühle, Gedanken und Eigentümlichkeiten ahnungslos, wohl gar widerwillig darlegt und so eigenhändig ein treffendes Bild seiner selbst zeichnet. – Manchem erscheint vielleicht diese oder jene Frage zudringlich oder überflüssig. – Er beantworte sie nicht, aber wohlgemerkt, erst, wenn er sich durch reifliches Nachdenken klar geworden ist, daß sie wirklich jenen Tadel verdiene.»3
Fast alle Einträge im Album stammen von Anfang 1889 – es verewigten sich in den zehn Einträgen aus jener Zeit neben Familienmitgliedern aus Grete Oldens Ursprungsfamilie Gerike auch ihr damaliger Mann, der Bühnenautor Paul von Schönthan (1859–1905), sowie sein Kollege Ludwig Fulda (1862–1939). Offenbar packte Grete Olden das Buch dann erst wieder im Februar 1892 in Weimar aus. Zunächst füllten, am 7. Februar, Rudolf Steiners Archivkollege Eduard von der Hellen und seine Frau Martha Fragebögen aus. Das Ehepaar gehörte zum engeren Olden’schen Kreis.4 Und schließlich kam am 8. Februar Rudolf Steiner dran! Das blieb dann auch schon der letzte Eintrag, und das Buch geriet wohl wieder in Vergessenheit – von anderen Mitgliedern des Kreises wie Gabriele Reuter oder Julius Wahle finden sich keine ausgefüllten Fragebögen.
Der Charakter des Kreises, wie ihn Gabriele Reuter im Folgenden beschreibt, bildet einen interessanten Hintergrund, vor dem man Rudolf Steiners Einträge teilweise sehen muss: «Individualisten von reinstem Wasser waren wir sämtlich, […]. Wir glaubten gewiss ehrlich an einer allerpersönlichsten Entwicklung in uns zu arbeiten, während wir doch nur das typische Entwicklungsleben unserer Zeit teilten. […] – Unsern Stirner hatten wir alle gelesen. Er hatte uns die Fundamente gelegt mit seiner theoretischen Logik, seiner erzenen, unerbittlich klaren Sprache und der nüchternen Kälte seiner Gedankenwege, die am Ende doch nur – ins aschgraue Nichts führten. – Nun war Friedrich Nietzsche unser Gott geworden, um den sich, wie Planeten um die Sonne, unsre Geister drehten. […] – Wir waren sehr verschiedene Naturen im Freundeszirkel, auf jeden wirkte der reiche, der vielseitige, hinterlistige, untergründige Zauberer wohl auch verschieden. Doch wie es an Phantasie keinem von uns fehlte, schaffte ein jeder sich seinen eigenen angebeteten und feierlich verehrten Friedrich Nietzsche.»5
Es war dann auch dieser Nietzsche so sehr verehrende Kreis, der auf Einladung des neuen Nietzsche-Herausgebers Fritz Koegel hin am 26. Mai 1894 nach Naumburg fuhr, wo er ihnen aus dem Manuskript des ‹Antichrist› vorlas: «Und wenn er eine Pause eintreten ließ,» so Gabriele Reuter, «hörten wir […] aus dem Nebenraum ein dumpfes Murren und Brummen wie die Laute eines gefangenen Tieres … Das war der kranke Nietzsche, der dort drinnen saß und nichts mehr wusste von seinem Werk, vor dem wir uns schauernd beugten.»6
Nietzsche also war die Sonne, um die sich die Geister des Olden-Kreises drehten – und das spiegelte sich in gewisser Weise auch in Rudolf Steiners Antworten auf manche Fragen. Denn es war Anfang 1892 eigentlich noch nicht die Zeit seiner hohen Nietzsche-Begeisterung – diese sollte sich erst ungefähr zwei Jahre später ganz entfalten.
Am 8. Februar 1892 füllte Rudolf Steiner also den ‹Fragebogen› aus. Auch wenn das Ganze Scherz und Spiel war – schaut man sich seine Antworten an, so scheinen sie mehr von seinen Sehnsüchten in jener Zeit als von seinen bisherigen Überzeugungen zu sprechen. Der Fragebogen legt gewissermaßen Zeugnis davon ab, dass er den Weg angetreten hatte, aus seinen rein idealistischen Höhen herabzusteigen und sich der irdischen Wirklichkeit zuzuwenden:7
Deine Lieblingseigenschaften am Mann? «Energie»
Welcher Beruf scheint Dir der beste? «Jeder, bei dem man vor Energie zu Grund gehen kann»
Wann möchtest Du gelebt haben? «In Zeiten, wo was zu thun ist»
Deine Idee von Unglück? «Nichts zu thun zu wissen»
Welche geschichtlichen Charaktere kannst Du nicht leiden? «Die schwachen»
Dabei war Rudolf Steiner zu dieser Zeit alles andere als «energiegeladen» – vielmehr hatte er das ganze Jahr 1892 mit Unwohlsein zu kämpfen. Auch bei den Lieblingshelden der Geschichte und den Lieblingskünstlern kommt dieser Drang ins Kraftvolle zur Geltung, das ihm selbst zumindest in physischer Beziehung kaum entsprach:
Lieblingshelden in der Geschichte? «Attila – Napoleon I., Cäsar»
Lieblingsheldinnen in der Geschichte? «Katharina von Rußland»
Lieblingscharaktere in der Poesie? «Prometheus»
Deine Lieblingskomponisten? «Beethoven»
Deine Lieblingsmaler und -bildhauer? «Rauch, M. Angelo»
Dass der klassizistische Bildhauer Christian Daniel Rauch (1777–1857) in einem Atemzug mit Michelangelo genannt wird, überrascht, denn er wird sonst nirgends von Rudolf Steiner erwähnt. Aber dass seine Lieblingsbeschäftigung zusammenfällt mit seiner Idee von Glück – beide Male antwortet er nämlich «Sinnen und Minnen», sicher inspiriert von der gleichnamigen Gedichtsammlung von Robert Hamerling, die ihm Pauline Specht zu seinem 26. Geburtstag geschenkt hatte –, ist wohl nicht nur Scherz. Das Sinnen ist ein mit dem inneren Menschen verbundenes Denken, keine bloße Kopftätigkeit; wenn sich das «Minnen» dazugesellt, das ‹lieben› bedeutet, wortgeschichtlich aber denselben Ursprung hat wie engl. ‹mind›, ‹Manas›, ‹Mensch›, also ein Lieben, das sich mit dem Geistigen verbindet – dann kann man sich dabei fast schon an das erinnert fühlen, was der spätere Rudolf Steiner als «Denken mit dem Herzen»8 bezeichnet, wo sich also Denken und Fühlen auf eine neue und bewusste Art verbinden.
Auf manches mag er nicht eingehen – bei anderem weiß man nicht recht, wie ernst er es meint:
Wo möchtest Du leben? «Das ist mir gleichgültig.»
Dein Hauptcharakterzug? «Den weiß ich nicht.»
Deine Lieblingseigenschaften am Weibe? «Schönheit»
Deine Lieblingsfarbe und -blume? «Violett. Herbstzeitlose»
Deine unüberwindliche Abneigung? «Pedanterie und Ordnungssinn»
Wovor fürchtest Du Dich? «Vor Pünktlichkeit»
Lieblingsspeise und -trank? «Frankfurter Würste – und Cognac. Schwarzer Caffee.»
Das Letztere mag für damals zutreffen. Frankfurter Würstchen waren wohl, will man den Überlieferungen glauben, eine der wenigen Speisen, die er damals selbst zubereiten konnte. Und dass er Pedanterie, Ordnungssinn und Pünktlichkeit verabscheute, mag damit zusammenhängen, dass diese Eigenschaften vonseiten des Archivs und seiner Verleger ständig eingefordert wurden – vielleicht dachte er dabei an seinen Archivdirektor Suphan. Dass er auf die Frage nach den Lieblingsnamen den ungewöhnlichen Namen «Radegunde» nennt, hängt wohl mit der Erinnerung an die einst Geliebte zusammen.9 In Bezug auf Männernamen bemerkt er lapidar: «Das mögen die Frauen entscheiden.»
Die zweifache Nennung Nietzsches hängt sicher mit der oben skizzierten Stimmung des Olden’schen Kreises zusammen:
Wer möchtest Du wohl sein, wenn nicht Du?«Friedrich Nietzsche vor dem Wahnsinn»
Deine Lieblingsschriftsteller? «Nietzsche, Hartmann, Hegel»
Auch bei den Lieblingsschriftstellern nennt er also Nietzsche – Goethe nicht! Das ist vor dem Hintergrund zu verstehen, dass Rudolf Steiner 1891 versuchte, sich von Goethe in gewisser Beziehung zu ‹befreien›.10
Aus innerstem Herzen mag wohl die Antwort auf die zwei folgenden Fragen gekommen sein:
Welche Fehler würdest Du am ersten entschuldigen? «Alle, wenn ich sie begriffen habe»
Dein Temperament? «Wandelbarkeit»
Ersteres erinnert an das Madame de Staël zugeschriebene Wort: «Alles verstehen heißt alles verzeihen». Dass Rudolf Steiner schon in jungen Jahren eine besondere Gabe hatte, sich zeitweise in das Innerste anderer Menschen hineinzuversetzen, davon liegen verschiedene Zeugnisse vor. Und «Wandelbarkeit» – das ist nicht Unstetigkeit, sondern eben die Fähigkeit, sich zu wandeln und sich doch treu zu bleiben: Er selbst steckte ja gerade in einem Prozess der Umwandlung, das fühlte er deutlich.
Sein ‹Motto›, das eigentlich unter einer Fotografie von ihm zu stehen gekommen wäre (die aber nie eingefügt wurde), entsprach seiner damaligen Lebensphase – dem Zugehen auf eine ‹Philosophie der Freiheit›: «An Gottes Stelle den freien Menschen!!!»11 In Notizbuch 492 aus jener Zeit heißt es ganz ähnlich: «Die Geschichte ist in Wahrheit die Entwicklung des Menschengeschlechtes zur Freiheit. Erst fühlt sich der Geist abhängig von Gott, arbeitet sich zur Freiheit heraus und erkennt sich selbst. An Gottesglauben Stelle glaub ich an den freien Menschen / Dr Rud. Steiner»12.
Auch wenn der Fragebogen nur ein Spiel war und wohl nicht alle Antworten darin wörtlich zu nehmen sind: Wie oben ausgeführt wurde, ist es aufschlussreich zu sehen, dass Rudolf Steiner in manchem Punkt sich wie eine Art Programm für die nächsten Jahre gegeben hat.
Titelbild Rudolf Steiner um 1891
Footnotes
- Rudolf Steiner, Mein Lebensgang [1923–1925], GA 28, 9. Aufl. Dornach 2000, S. 227.
- Ebenda, S. 228.
- Friedrich Kirchner, Erkenne Dich selbst. Gedenkalbum zur Charakteristik der Freunde und Freundinnen. Leipzig o. J.
- Rudolf Steiner würdigt das Ehepaar in ‹Mein Lebensgang›, siehe Anm. 1, S. 281 f.
- Gabriele Reuter, Vom Kinde zum Menschen. Berlin 2017, S. 295–297.
- Ebenda, S. 301.
- Im 22. Kap. von ‹Mein Lebensgang› legt Rudolf Steiner dar, wie dieser Weg zu einem gewissen Abschluss kam in seinem letzten Weimarer Jahr, wie sich da sein Interesse für die Sinneswelt stark intensivierte und wie der Wille das geistige Erkennen übernahm, das bis dahin vom Ideellen geleitet worden war.
- Siehe dazu den Vortrag vom 29. März 1910, in: Makrokosmos und Mikrokosmos. GA 119, 3. Aufl., Dornach 1998.
- Siehe dazu Kapitel 5 über die Familie Fehr in: Martina Maria Sam, Rudolf Steiner. Die Wiener Jahre. Dornach 2021.
- Dazu wird Näheres in meinem in Arbeit befindlichen Band ‹Rudolf Steiner. Die Weimarer Jahre› zu finden sein.
- Dazu passt auch, dass er Prometheus seinen Lieblingscharakter in der Poesie nannte.
- In: Wahrspruchworte. GA 40, 10. Aufl., Dornach 2019, S. 241.
1892 erschien ‹Der Einzige und sein Eigenthum› in der zweiten Auflage.
Allerdings nicht irgendwo, sondern, Achtung Weltsensation!, als Bändchen der Reclam Universal-Bibliothek.
Träume können in Erfüllung gehen. Die Welt ändert sich. Die Revolution ist nahe.
Zum Download:
https://archiv.ub.uni-marburg.de/eb/2013/0069
(Behalten Sie bitte im Blick, dass es den Autor Max Stirner nicht gegeben hat. Das ganze Buch ist mit Zitaten von Goethe und Referenzen auf Homer durchsetzt. Entgegen der Ansicht von Eduard von Hartmann hat Nietzsche dieses Buch vermutlich nicht gekannt.)
Kleiner Tipp an alle, die auch gern «Friedrich Nietzsche vor dem Wahnsinn» wären: Es könnte helfen, Friedrich Nietzsche zu lesen. Im Internet finden Sie dazu Textdatenbanken, gefördert mit öffentlichen Mitteln. Leider erwähnt Nietzsche hin und wieder philologische Fachbegriffe in seinem Werk, diese kann man einfach googeln. Man sollte sie aber nicht überlesen und sich nicht nur auf das stürzen, was man ohnehin versteht.
Friedrich Nietzsche war vor dem Wahnsinn Philologe. Philologie ist nichts Böses oder Schreckliches, Philologen dienen dem Wort (Logos), sind Freunde des Worts (Logos) und verehren das Wort (Logos).
Friedrich Nietzsche hat sich vor dem Wahnsinn und auch danach sehr intensiv mit der Literatur der griechischen Archaik und der griechischen Klassik auseinandergesetzt. Diese Bücher liest man nicht einfach um schnell zum nächsten Buch zu greifen, man beschäftigt sich mit diesen Werken ernsthaft das ganze Leben lang. Können Sie das auch? Sind Sie dazu sittlich-moralisch als Mensch überhaupt in der Lage?
https://de.m.wikipedia.org/wiki/Griechische_Literatur
Auch wenn das, was ich Ihnen aufgeschrieben habe, streng klingen mag, wir haben häufig zwölfjährige Kinder, die nach Homer und Aischylos verlangen. Das ist für uns ganz normal. Falls Sie nun bemerken, dass Sie nicht mehr zwölf Jahre alt sind, dann sollten Sie sich vielleicht mal etwas beeilen. Fürchten Sie sich nicht, wir sind ja da und helfen Ihnen.