Am Anfang war … das stimmige Verhältnis

Eine Betrachtung zum johanneischen Logos


Der aus dem Griechischen übertragene Anfang vom Prolog des Johannesevangeliums ist allgemein bekannt: «Am Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott» (Johannes 1, 1). In der folgenden Betrachtung möchte ich diese gängige Übertragung nicht kritisieren, sondern durch eine Interpretation des griechischen Begriffes ‹lógos› ergänzen und vertiefen, die auf eine, soweit mir bekannt, bisher unbeachtete Dimension dieser unerschöpflichen Quelle der Spiritualität hindeutet.

Der griechische Begriff ‹lógos› weist nicht nur auf das schöpferische ‹Wort› hin, das von der göttlichen Intelligenz (ebenso lógos) geboren wird. Derselbe Begriff deutet auch auf das harmonische Verhältnis hin, das zwischen dem Vater und dem Sohn/Wort am Anfang alles Seienden besteht und durch das alle Formen des Seins entstehen (Johannes 1, 3 und 10). Denn in der Tat ist eine Grundbedeutung des griechischen Wortes ‹lógos› eben Verhältnis, Relation, Proportion, auch in einem musikalisch-mathematischen Sinne, das heißt als stimmiges, harmonisches Verhältnis verstanden. Ausgehend von dieser Grundbedeutung könnte der Anfang des Johannesprologs auch so verstanden werden: «Am Anfang war das (stimmige, harmonische) Verhältnis, und das Verhältnis war zum Gott hingewendet.»

Bild: Katharina Müller

Die hier vorgeschlagene Interpretation «und das Verhältnis war zum Gott hingewendet» rechnet konsequent mit dem wortwörtlichen Sinne der griechischen Formulierung ‹pros ton theón›, denn die Präposition ‹pros› plus Akkusativ bedeutet eben, auch im Neuen Testament, die Hinwendung in Richtung eines Ortes, einer Sache, einer Person, einschließlich in Bezug auf das Sprechen beziehungsweise auf ein Gespräch.

Aufgrund dieser Interpretation ist das schöpferische, unerschöpflich lebendige Wort des Vaters (ho theós = der Gott schlechthin), das heißt der Sohn, ein dynamisches, lebens- und lichtgebärendes Verhältnis (Johannes 1, 4-5 und 9), wie ein Ich-Gespräch zwischen Vater und Sohn, durch das sich die Seinsschöpfung ereignen kann. Wort kann hier, anders ausgedrückt, als stimmiges, harmonisches Verhältnis, als stimmiger, ursprünglicher Weltenrhythmus und zugleich als ‹Ur-Eurythmie› verstanden werden, durch die eine urbildhaft musikalische sowie spirituell mathematische Herzens- und Atemdynamik als Grund aller Formen des Seins wirkt und offenbar wird.

Ausgehend vom bisher Erörterten offenbart sich die Bedeutung von ‹lógos› als (stimmiges/harmonisches) Verhältnis nicht als ausschließende Alternative, sondern als fruchtbare Explizierung, Vertiefung, Interpretation in Bezug auf die gängigen Übertragungen vom Anfang des Johannes-Prologs. Durch die Hervorhebung dieser Bedeutung, auf die der johanneische Wortlaut deutlich hinweist, gewinnt der johanneische Begriff des schöpferischen Wortes für uns Menschen der Gegenwart an Dynamik und Konkretheit.

Als stimmiges Verhältnis verstanden, offenbart sich der johanneische Christus-Logos als jene Urquelle aller Weltenrhythmen und Herzensdynamiken, die in Rudolf Steiners Grundsteinmeditation als Christus-Wille bezeichnet werden. Die Weihnachtszeit möchte uns zu einem schöpferischen Besinnen einladen, das diesen Christus-Willen in der Sinneswelt immer mehr sichtbar machen kann: sichtbar als gegenwärtiges Urbild aller Sinneswahrnehmung, die, durch die Freiheit und die Liebe des Ich getragen, stimmiges Verhältnis, harmonischer Rhythmus, vom Herzen geborenes Gespräch werden und somit den Menschen, der Welt neues Leben und Licht schenken kann.


Die hier vorgestellte Betrachtung fußt auf einem Beitrag, der in der Tagung ‹Der Sämann sät das Wort – Von der Keimkraft des Lógos› (Tagung zum Werk Georg Kühlewinds, Stuttgart, 29.–31.10.2021) gegeben wurde.

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