Allusion – Anspielungen auf das Sehen

Der Schweizer Künstler Markus Raetz starb am 14.4.2020 mit fast 79 Jahren. Werke von Raetz befinden sich im Kunstmuseum Bern und im Kunstmuseum Basel, im Museum für Moderne Kunst in Frankfurt und im Museum of Modern Art in New York.


Mit der Kunst kann man sehen lernen. Das gilt für die Zeichnungen, Objekte, Installationen von Markus Raetz ganz besonders. Mit seinen Werken kommt man ins lustvolle Sehen, ins heitere, staunende Denken über die Wahrnehmung und das Spiel mit der Wahrnehmung. Ästhetik und Aisthesis florieren hier in einer Fördergemeinschaft.

Ein experimenteller Künstler – und bei seinen Ausführungen ein sensibler Perfektionist und Pedant. Seine (plastischen) Werke muten oft wie Versuchsanordnungen an, aber nicht zum Beweisen oder zur Veranschaulichung einer Theorie, sondern mehr als Versuchsinstallationen für das Spiel mit der Wahrnehmung. Inspirationen und Imaginationen sind im Spiel. Erkenntnisse im Sprachspiel geben Raetz Sprungkraft: ‹Nothing is lighter than light› ist ein Bildtitel. Theorie und Idee werden bei ihm wieder im ursprünglichen Sinn eingesetzt als Schauung und Anschauung und Bild. Der Beweis liegt dabei für den Künstler ähnlich wie bei einem Techniker im ‹Es geht!›.

Der Künstler hat immer wieder das Möbiusband gezeichnet, gerechnet, probiert – jetzt weiß er, wie es geht. Mit einem breiten Pinsel malt er in einem Zug die Mischung aus blauem Aquarell und Kleisterfarbe aufs Papier, indem er mit dem Pinsel einen 180-Grad-Looping aus seinem Handgelenk dreht und das Möbiusband auf das Papier zaubert, Innen bewegt sich nach außen, Außen bewegt sich nach innen, in einem Loop ohne Ende, man könnte meinen, in großer Geschwindigkeit.

‹Kopf› im Park von Brüglingen

Meine erste Begegnung mit einem Werk von Raetz kam unter idealen Bedingungen zustande. Nach der großen Freilichtausstellung ‹Skulptur im 20. Jahrhundert› im Park von Brüglingen bei Basel 1984 blieben einige Werke verschiedener Künstler und Künstlerinnen (z. T. bis heute) stehen. Die Ausstellung war vorbei, die Besuchenden längst gegangen, es war wieder der beliebte Freizeitpark Grün 80 mit besonderen Blumen und Bäumen, und Spazierenden, die den Aufenthalt in der Natur genossen. Ich gehörte zu einer Gruppe, die jährlich im Sommer eine mehrwöchige Veranstaltung ‹Natur und Kunst› organisierte, unter Beteiligung von Künstlerinnen und Wissenschaftlern. Hier entdeckte ich auch die 13 Kalksteinquader, die im Rasen liegen oder schräg dastehen, chaotisch. Ein Freund, der sich auskannte, hatte mich nach dem Wahrnehmungsrätsel auf die kleine Anhöhe geführt, zum Standpunkt, der dem Betrachter das Kunstwerk erscheinen lässt. Nicht bei allen kommt es gleich auch zur Erkenntnis: Die einzelnen Steine im Rasen, diese verstreuten Einzelteile, gehören zum Umriss eines großen Kopfprofils. So wie andere die ‹Mona Lisa› oder das ‹Abendmahl› besuchen, habe ich dieses Werk seither immer wieder besucht, gerne mit Freunden, die erst durch innerliche (sehen und denken) und äußere Bewegung (gehen) aus den Steinrunen einen Kopf zeichnen. Dabei genoss ich die unterschiedliche Zeitspanne, die bei einem Erstbesucher vergeht, bis es zum Bild im eigenen Kopf kommt, selbst wenn er oder sie jetzt am richtigen Ort steht, von wo es möglich ist. Der ruckartige Übergang vom Anglotzen der Steinklötze bis zum erlösenden Bildbegriff ‹Kopf›, in dem sich dann das Sehen realisiert, lässt sich geradezu physisch miterleben.

Nicht nur ohne Denken bleibt das Wahrnehmen stumm, sondern es kommt auch auf die Position und den Standpunkt an, damit man etwas sieht, was man sonst nicht sieht. Und es braucht für das Sehen/Erkennen auch die richtige Distanz, hier den Blick von einer nahen Geländeerhebung. Während des Verweilens nahe bei den Steinblöcken und der Untersuchung und Beschreibung der einzelnen Steine stellt sich das Bild aus den einzelnen Steinen und ihrer Lage zueinander noch überhaupt nicht ein.

Bei so einer kleinen, erfreulichen Erschüt­terung mag einem in der Sehschule auch Weiteres dämmern. Für andere Erscheinungen reicht sogar der richtige Standpunkt noch nicht, oft braucht es auch noch den richtigen Zeitpunkt, und nicht selten braucht es zusätzlich noch den günstigen individuellen biografischen Zeit- und Lebenspunkt, damit etwas zur Erscheinung kommen kann und zu einem spricht.

Markus Raetz, ‹Looking Glass›, 1988, Kunsthaus-Sammlung Pasquart. Foto: D. Müller

‹Kiki réanimée›

Besonders tückisch wird’s, wenn sich dem Sehen etwas zeigt, wo gar nichts ist, nur der Zwischenraum (quasi der Morgenstern’sche Zwischenraum mit Lattenzaun). Bei der kinetischen Plastik nach Man Rays Fotoarbeit mit seiner Partnerin, dem damals in Paris begehrten Modell Kiki von Montparnasse, muss ich den Blick wegnehmen von den zwei dunklen, sich drehenden Plastiken, die die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, und auf den hellen Zwischenraum schauen. Hier nämlich ereignet sich das Kunstwerk, die tänzelnde ‹Kiki réanimée›. Die winzige Verschiebung des Blicks von den drehenden Säulen auf den Zwischenraum lässt ruckartig im Blick und im Kopf die Umrisse der Gestalt sichtbar werden und bringt das Bild zum Tanzen und Sprechen. Im sehenswerten Filmporträt ‹Markus Raetz – die Augenspielerei des Schweizer Künstlers› (2007) von Ivan Schumacher werden die gewaltige Vorarbeit zu dieser Installation und die Arbeitsweise des Künstlers bis zur Realisation dokumentiert.

Wortmetamorphosen

Von Raetz gibt es plastische Gebilde, in denen zwei verschiedene Gestalten (Jäger oder Beuys mit Hut und Hase) oder Wörter-Gegensätze versteckt sind. Durch Drehen oder Umkreisen der plastisch geformten Buchstaben metamorphosiert sich das Ja-Wort ‹oui› ins Nein-Wort ‹non›, ‹alles› (‹tout›) wird bei Raetz durch Drehen zu ‹nichts› (‹rien›) und vice versa. Es ist ein Spiel mit Ambiguität, Ambivalenz, mit Sowohl-als-auch.

Ich verstehe meine Arbeiten wie Musik­instrumente, auf denen man selbst spielen kann.

Raetz ist der Morgenstern unter den Künstlerinnen und Künstlern mit einem ironisch-dialektischen Blick, der die Betrachtenden die Synthese machen lässt. Ob ja oder nein, ob alles oder nichts hängt von deiner Sicht/Ansicht ab. Das Statisch-Gegensätzliche wird in eine dynamische Einheit überführt, nämlich durch Bewegung/Drehung. So führt Raetz mit einem Augenzwinkern wie nebenbei plastisch-anschaulich-nominalistisch Hegel vor, wie nämlich in jedem Begriff sein Gegenteil enthalten ist. Ich muss etwas nur vollumfänglich drehen, dann komme ich bis zu seinem Gegenteil. Das Spiel mit Gegensätzen und ihrer jeweiligen Erweiterung in ihren Gegensatz oder Gegensinn zieht sich geradezu als Leitstern durch sein Leben.

Zeichnerisches Denken

Raetz ist auch ein Reduktionskünstler mit minimalem Materialaufwand und verblüffender Wirkung. Mit zeichnerischem Denken schuf er Naturmaterialien-Haikus, aus Eukalyptusblättern Gesichter oder mit nur drei kahlen Ulmenzweigen die Eva in A’dam (populäre Abkürzung für Amsterdam). Das Erlebnis kannte er gut, dass ihm etwas erscheint, sich zeigt, darstellt: «Auf dem Meer wurde heute ein Türkisblau neben einem Blassrosa zur Darstellung gebracht» (Eintrag unter einem Aquarell im Skizzenbuch in Tunesien).

Raetz drückte sich mit ganz verschiedenen Mitteln aus, vor allem mit der Zeichnung. In einem alten Artikel über ihn fand ich eine zutreffende Bemerkung, etwa im Sinne: Es gelingt ihm, mit wenigen Linien auf einem Blatt Papier die Betrachtenden auf ihr Sehen aufmerksam zu machen, sie im Rahmen dieser intimen Begegnung mit einer Zeichnung zum Schmunzeln, Stutzen, Überlegen und aufmerksameren Sehen zu verführen.

Eine spielerische Erforschung der Wahrnehmung und eine integre künstlerische (nicht intellektuelle) Haltung den Dingen und Materialien gegenüber durchlichtet sein Werk. Raetz war nicht ein Mann der großen Worte und theoretischen Diskurse. Zeitungsinterviews mit ihm sind äußerst rar. «Sobald ich Statements zu meiner Kunst abgebe, wird das für die letzte Wahrheit gehalten. Das schränkt die eigene Wahrnehmung enorm ein. Die Leute sollen meine Bilder und Skulpturen unvoreingenommen anschauen. Ich verstehe meine Arbeiten wie Musikinstrumente, auf denen man selbst spielen kann» (‹Berner Zeitung›, 24.2.2014). Raetz möchte zeigen, aber nicht erklären. Im Sehen soll es aufleuchten. Wahrscheinlich scheint es bei ihm ähnlich wie bei Hopper zu liegen: Wenn ich es hätte sagen können/wollen, hätte ich es nicht gemalt. Er dachte und sprach wahrscheinlich vor allem mit den Händen. Er wirkte bescheiden, leise, auch liebevoll ironisch.

In einigen Beiträgen über Raetz wird seltsamerweise auch von Illusionismus in Zusammenhang mit seinen Arbeiten geschrieben. Hans-Christian Zehnter ging in seiner Besprechung für das ‹Goetheanum› philosophisch-phänomenologisch auf die Werke ein (er schuf den originellen Ausdruck ‹raetzelhaft›) und schickte den Artikel dem Künstler. Raetz antwortete mit einem Brief und der wichtigen Bemerkung: «[…] und vor allem Ihre deutliche Feststellung, dass es sich nicht um Illusionen und Illusionismus handelt, hat mich sehr gefreut.» Auf einem Skizzenbuch-Blatt finden sich die zwei Begriffe ‹Allusion-Illusion›. Als Wörter unterscheiden sie sich allein durch die Anfangsbuchstaben A und I. Im Werk von Raetz geht es immer wieder um das A. A wie Anstiftung zum Staunen und Wundern. Das Kindliche, den kindlichen Blick, hat er sich immer erhalten und er hat ihn bis zum Schluss weiterentwickelt.


Beiträge und Interviews

Der Film von Ivan Schumacher ‹Markus Raetz – die Augenspielerei des Schweizer Künstlers› (2007) ist als DVD erhältlich.

Auf Youtube gibt es mehrere kurze Einblicke in Raetz’ kinetische Werke.

Interview mit Dominique von Burg, in: Kunstbulletin 12/2012.

Interview mit Miriam Sturzenegger, 14.11.2011.

Hans-Christian Zehnter, Das Sehen sehen, in: Goetheanum 45, 10. November 2012.

Werner von Mutzenbecher, Die Wahrnehmung findet im Kopf statt, in: Basler Zeitung, 13. Januar 2013.

Rudolf Bind: Zum Schauen bestellt … Zu einer Ausstellung von M. Raetz, in: Goetheanum 27, 27. August 1989.

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