Alles überall auf einmal

Der diesjährige Oscar für den besten Film ging an ‹Everything Everywhere All at Once› (Alles überall auf einmal) – einen postmodernen Science-Fiction-Film mit einer gehörigen Portion realitätsverändernder, fantasievoller Bilder. Der Film wurde zum meistausgezeichneten Film aller Zeiten und übertraf damit ‹Der Herr der Ringe: Die Rückkehr des Königs›, der diesen Rekord die letzten 20 Jahre hielt.


Im Mittelpunkt der Geschichte steht ein Ehepaar, das aus China in die Vereinigten Staaten eingewandert ist. Sie haben zu kämpfen mit den Unterschieden zwischen den Generationen und Kulturen, müssen ein chinesisches Neujahrsfest in ihrem Waschsalon vorbereiten und ihre Steuerabrechnung sofort korrekt abliefern. Während die Spannung steigt, bereitet sich der Ehemann darauf vor, seiner Frau (der Protagonistin) die Scheidungspapiere zu überreichen. Die Konvergenz alltäglicher Krisen wird schnell zu einem multidimensionalen Kampf gegen eine Version der Tochter des Paares aus einem anderen Universum. Dort haben Techno-Mystiker herausgefunden, wie man sich mit Paralleluniversen verbinden und auf Fähigkeiten zugreifen kann, die in anderen Leben entwickelt wurden. Diese Version der Tochter hat einen ‹gebrochenen Verstand› und dadurch jeglichen Sinn für Moral verloren, auch wenn dieser Bruch immense Kräfte freigesetzt hat. In einem Anfall von Langeweile und Neugier hat sie dieses kosmische Chaos zu einer Art schwarzem Loch verdichtet, das das Multiversum zu zerstören droht – Symbol für ein absurdes, alles verzehrendes Alles-Nichts, um das sich eine Art Kult entwickelt. Nur die Protagonistin, die Mutter, die zwischen Genie und Hilflosigkeit schwankt, kann das Multiversum retten.

Der Film erforscht grundlegende Fragen der Ära der Bewusstseinsseele, die sich in unserer hyper-postmodernen Situation verschärft haben. Die Zertrümmerung von Traditionen und Begrenzungen wird zu einem Grund für Chaos und Freiheit. Inmitten dieser Bodenlosigkeit und des sich ausbreitenden Potenzials tauchen neue Fragen nach Moral und Selbstsein auf. Sowohl große biografische Entscheidungen als auch kleine Handlungen erhalten ein neues Gewicht – die Wahl eines Weges schneidet eine unglaubliche Anzahl anderer Möglichkeiten ab. Ebenso zersplittert die verstärkte Freiheit Kulturen und Beziehungen, bringt neue Übel hervor und stellt die Liebe auf eine harte Probe, um sich zu erneuern. Und diese sich verschärfenden Herausforderungen geschehen in einem immer dichter werdenden Zeitrahmen: Everything Everywhere All at Once.

Plakat ‹Everything Everywhere All at Once›

Liebe aus Freiheit braucht diese kosmische Krise, in der alte Weltbilder zerbrechen und sich auflösen. Wir müssen diese Brüche, Widersprüche und Verwirrungen aushalten, damit wir Weltbilder schaffen, die integrieren, und lernen, die Liebe aus einem größeren Bewusstsein heraus zu regenerieren. Die Protagonistin erfährt gleichzeitig Ermächtigung und Desillusionierung, die Fülle des Chaos und den Zusammenbruch der Ordnung, damit sie von überholten Ängsten und Befürchtungen befreit wird und ihr kreatives, fantasievolles Potenzial entfalten kann. Es ist nicht abzusehen, dass sie sich zur Liebe erheben wird. Das nihilistische Chaos droht die Oberhand zu gewinnen. Nur die naive Liebe ihres Mannes, die sie als grundlegend gut erkennt, holt sie aus dem Abgrund zurück. Im Angesicht von Verwirrung und Angst siegt schlussendlich das Mitgefühl.

Die zentralen Fragen des Film beziehen sich auf die Geisteskraft des Willens im Bewusstsein. Mit dieser Kraft kann man sich Fähigkeiten aneignen, die in anderen Leben entwickelt wurden – und die, da sie als Potenzial vorhanden sind, auch tatsächlich neu ins Leben gerufen werden können. Der Film bewegt sich bildsprachlich in der Absurdität und dem Surrealen. Er bricht damit Begriffsmuster und Vorstellungen auf. In diesem Chaos liegt eine Einladung zur Kreativität. Die Protagonistin entwickelt ein imaginatives Bewusstsein, welches sie im Verlauf der Geschichte mit lebensbejahender, mitfühlender Freude füllen kann. Die Liebe siegt über den Zynismus der Waschsalonbesitzerin.

Es ist bezeichnend, dass dieser Film im gleichen Jahr herauskam, in dem die künstliche Intelligenz (ki) so viel Aufsehen erregte, so viele Möglichkeiten eröffnete und so vieles einriss, was zuvor als selbstverständlich angesehen wurde. Wir erleben eine Zeitverdichtung, die manche als Beschleunigung in Richtung ‹Singularität› ansehen, die für die meisten von uns aber überwältigend ist: Everything Everywhere All at Once. Wir haben ein enormes Potenzial freigesetzt, das fragmentierend oder auch kreativ werden kann. Letztendlich ist entscheidend, ob wir diese Macht in den Dienst der Liebe stellen. Ist es nicht die Kraft des Menschengeistes, die allein in der Lage ist, Werte zu erzeugen und die Scherben einer zunehmend zersplitterten Welt wieder zusammenzusetzen? Vielleicht ist ein Leben mit Waschsalon und Steuern tatsächlich zutiefst schön.


Titelbild Filmstill ‹Everything Everywhere All at Once›

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