Über die Sprache der Schwelle im neu auf Deutsch erschienenen Buch von Iftach Ben Aharon.
«Der Schleier der ‹Maya› wird entfernt und nun kann sich zeigen, was bislang hinter dem irdischen Vorhang des persönlichen Bewusstseins verborgen lag: Das Erhabenste sowie sein Gegenteil; das Schattenwesen der Menschheit steigt aus dem Abgrund empor.» (S. 24) Dem Drama unserer Gegenwart widmet sich Iftach Ben Aharon. Es ist das Drama der Begegnung durch Freiheit und Liebe, und somit der Begegnung mit den Kräften des Lebensbaums sowie mit dem Bösen. Dieses Buch ist an der Zeit, weil es die Phänomenologie des im 20. Jahrhundert begonnenen Schwellenübergangs der Menschheit ausgehend sowohl von Steiners Hinweisen als auch von anregenden geistes- und zeitgeschichtlichen Ausführungen verdichtet. Am tiefsten ist seine Originalität dort wahrnehmbar, wo das Entscheidende aufgrund der ‹Philosophie der Freiheit› erörtert wird, in der Steiner «um den Zusammenhang des Freiheitsbegriffs mit dem Guten» ringt; dabei besteht «der Erkenntnisdurchbruch […] im Hinweis auf die […] Individualität als Welten-Menschen-Wesen jenseits der Teilung zwischen Subjekt und Objekt. […] Der Mensch ist, sofern er Subjekt und Objekt in sich birgt, als Ich in der Lage, aus dem Anderen heraus zu handeln […]. Dies ist die Ethik des Schwellenübergangs, die sich nicht mehr auf Ich-externe Kriterien stützt, sondern […] direkt aus dem Entstehungsstrom des Lebens» geboren wird (S. 42–43). Mithin wird Folgendes auf – soweit mir bekannt – bisher einmalige Weise auf den Punkt gebracht: Die Frage nach der Freiheit kann nur aufgrund einer Philosophie der Freiheit fruchtbar erörtert werden, die wagt, ‹Agathologie der Freiheit›, das heißt ein Denken und eine Sprache (‹lógos›) zu sein, die das Gute (‹agathón›) als Mitte und Quelle des Handelns will. Das Gute ist hier wiederum kein abstraktes, normierendes Universales, sondern kann nur durch die intrinsische Fähigkeit des Ich geboren werden, sich in der Begegnung mit der Welt als ein von Freiheit und Liebe getragenes Gesprächswesen zu offenbaren, das «Wirklichkeit als Dialog» (S. 45) will.
Hiermit ertönt die heute entscheidende Frage nach einem Bild des Ich, das endlich die übliche atomistische/solipsistische Vorstellung eines in sich geschrumpften, stets verortbaren, konditionierbaren Punktes verlässt, um sich zum Bild einer atmenden Mitte/Sphäre zu verwandeln: Eine Handlung wird gut, wenn der Mensch aus dem «Mitte-Umkreis-Wesen heraus handelt, das die Quintessenz seines Wesens ausmacht», da «mein wahrer Wesensmittelpunkt gleichzeitig auch der Umkreis der Welt ist» (S. 77), und dies als dynamisches, eurythmisches Atmen im Lichte – siehe Steiners Begriff ‹Lichtseelenprozess› (GA 194, 30.11.1919) –, so «dass der Andere ich bin» und dadurch ein nicht nur medizinisch heilendes Tun entstehen kann (S. 118). Es handelt sich hier um eine Herzenssphäre, die zugleich als «Sphäre des Gesprächs […] mit dem anderen Menschen, mit der Natur, mit dem Geist» wahrnehmbar ist (S. 129–130): Sphäre der Liebe, Innen und Außen zusammenfügend, «Pendelbewegung zwischen innerer Arbeit, indem ich den Anderen in mir finde, und der Arbeit nach außen, in die Welt hinein, indem ich mich dem Anderen hin schenke» (S. 120). Die Sprache dieser Herzenssphäre, des Ich als Welten-Menschen-Wesens, ist die Sprache der Schwelle. Die Verbindung dieser Sprache mit der Frage nach einem stimmigen Bild des Ich ist der größte Verdienst dieses Buchs. Denn diese Sprache kann nur dann geboren werden, wenn das solipsistische Bild des Ich überwunden wird, mit dem die Spaltung von Innen und Außen, Mensch und Welt, und mit ihr alle vom Autor charakterisierten, sich immer mehr verbreitenden problematischen Phänomene zusammenhängen, die durch den Schwellenübertritt der Menschheit entstehen, und eine immer mehr fortschreitende Spaltung von Denken, Fühlen, Wollen, von Wissenschaft, Kunst, Spiritualität/Religion offenbaren.
Die andere entscheidende Frage, die dieses Buch erklingen lässt, betrifft die freie Verantwortung aller Menschen zur Entwicklung der Menschheit nach dem Schwellenübertritt. Der «Schwerpunkt [wird] von der Frage des Todes auf die des Bösen verlegt. […] Wer meint, voll und ganz auf der guten Seite zu sein, ist […] bereits auf der anderen Seite. Durch die Leugnung des Bösen wird das Böse nach außen verlagert und einem anderen unterstellt. […] Die Umkehrung kann erst erfolgen, wenn aus […] Selbstbetrachtung eingesehen wird, dass der Kampf in einem selbst stattfindet.» (S. 67)
Dieses Buch zeigt, dass der Schwellenübertritt der Menschheit nicht nach ‹hellsichtigen› Sensationen verlangt, sondern uns alle vor die schlichte und zugleich gewaltige Frage nach dem freien Menschen stellt. So lebt Anthroposophie in ihm als «Weisheit, die der Mensch spricht» (R. Steiner, GA 115, 23.10.1909, S. 18), in Freiheit und Liebe sprechend. Dieses Buch macht wahrnehmbar, dass diese Weisheit mit einem neuen Menschenbild und Bild des Ich intim zusammenhängt, und deutet somit auf eine entscheidende Aufgabe der anthroposophischen Forschung hin: auf die Entwicklung einer Menschenkunde, aufgrund der eine Sprache ertönen kann, durch die das Ich als Welten-Wesen, als Welt-Gespräch in Freiheit und Liebe wirkt.
Buch Iftach Ben Aharon, Die Sprache der Schwelle – Perspektiven der Gegenwart, aus dem Hebräischen von Yoav Sapir, Verlag Am Goetheanum, Dornach 2023