Ätherische Vernunft

Hegel zum 250. Geburtstag ein Buch über sein Ringen um die menschliche Intelligenz.


‹Das Wahre ist das Ganze. Hegels Ringen um eine menschliche Intelligenz› kommt rechtzeitig zum 250. Geburtstag auf den Markt. Wir dürfen froh sein, dass Günther Dellbrügger, der sich als kompetenter Hegel-Kenner ausweist, uns mit diesem Buch in ein Gebiet einführt, das für die meisten Menschen mit sieben Siegeln verschlossen zu sein scheint. Wer mal versucht hat, die Gedanken der 1807 erschienenen ‹Phänomenologie des Geistes› mitzudenken, spürte wohl schon nach einigen Seiten, wie ihm die Puste des noch Fassbaren ausging. Umso dankbarer können die heutigen Leserinnen und Leser sein, wenn sie von kompetenter Seite in die Denkweise dieses bedeutenden Philosophen eingeführt werden.

Hegel, von Schlesinger gemalt, 1831

Das neue Buch von Günther Dellbrügger hat mit seinem früheren Buch ‹Das Erkennen schlägt die Wunde und heilt sie. Hegels Kampf um die menschliche Intelligenz›, das im Jahr 2000 erschienen war, eine gewisse Ähnlichkeit. Gleich im Vorwort erklärt sich der Autor: Der Geburtstag war der Anlass, das Buch «einer gründlichen Durchsicht zu unterziehen und vor allen Dingen mit neuen Kapiteln zu aktualisieren und zu erweitern. Seine geistige Strahlkraft scheint mir ungebrochen, sein Denken ist in einem überkonfessionellen, freien Christsein gegründet.» Vergleicht man beide Texte, so bemerkt man, dass in den zwanzig Jahren eine enorme Vertiefung stattgefunden hat, vielleicht kann man sagen, dass das Thema um eine gewaltige Dimension erweitert wurde.

Die doppelte Kraft des Geistes

Der Grundgedanke ist der, dass Hegel in seinem Denken die Möglichkeit erlebt, dass das Denken nichts Willkürliches an sich haben muss, wenn man konsequent die Erscheinungen durchdenkt. Durch das Denken entdeckt man, wie in diesem Denken selber der Schlüssel zu finden ist, die geistige Seite der Erscheinungen aufzuschließen. Damit rückt die Dimension des Hegel’schen Denkens in den Bereich der mystischen Erfahrung, der Gedankenmystik.

Hier bringt Dellbrügger eine der interessantesten Erfahrungen ein, die vom persischen Dichter Dschellaladin Rumi gemacht und von Hegel zitiert und beschrieben werden. Rumi dichtet: «Wohl endet Tod des Lebens Not, / Doch schauert Leben vor dem Tod. / Das Leben sieht die dunkle Hand, / Den hellen Kelch nicht, den sie bot. / So schauert vor der Lieb’ ein Herz, / Als ob es sei vom Tod bedroht. / Denn wo die Lieb’ erwachet, stirbt / Das Ich, der dunkele Despot. / Du lass ihn sterben in der Nacht / Und atme frei im Morgenrot!» Es hat einen Bezug zu Hegels Erkenntnis, dass das Erkennen die Wunde schlägt, indem es den Erkennenden von allem Geistigen abtrennt, aber um zugleich aufzudecken, dass im Denken das Instrument liegt, das die Trennung in eine wachsende Beziehung zum Geistigen zu wandeln vermag. Die Trennung bedeutet Tod, der Erkennende schreckt davor zurück und sieht so den Kelch nicht, der ihm antwortet, wenn er die sich zuwendende Liebe entfaltet. Dieses übende ‹Stirb und Werde› spricht Rumi ebenso wie Hegel aus. Hier erweitert sich das Bewusstsein in die religiöse Erfahrung: «Die Kraft des Geistes ist eine doppelte: einerseits sich vom Sinnlichen loszureißen, andererseits aber auch, das Irdische zu ergreifen! […] Die Kraft des Geistes taucht in das Irdische ein, gibt sich ihm hin, ohne darin unterzugehen! […] Der Sohn ist herabgestiegen in das Irdische, er ist bis in den Tod gegangen, hat den Tod getötet. Im Tod, im Untergang, hat er gesiegt und hat das Menschenwesen zur Auferstehung geführt.» (1) Insofern stellt Hegels Denkerlebnis zugleich Passion und Auferstehung dar. Dieses Thema wird von Dellbrügger weiterentwickelt und mit Hegels Worten wird die Bedeutung des Kultus und der Gemeinschaft klar umschrieben.

Die Kraft des Geistes ist eine doppelte: einerseits sich vom Sinnlichen loszureißen, andererseits das Irdische zu ergreifen.

Ätherische Vernunft

Einen anderen Aspekt möchte ich hier noch hervorheben. Hegel unterscheidet zwischen dem europäischen Verstand und der ätherischen Vernunft. Der europäische Verstand fesselt den Menschen an die Erde. Geistwerdung im Sinne des Johannes geschieht nur dann, wenn des Menschen eigener Feuerstoff in Brand gerät und er seine eigene Flamme wird. Lernt das Denken aber, sich in sich selbst zu halten und leibfrei zu existieren, wird es für Hegel zur ätherischen Vernunft, die im rein Geistigen leben kann.(2) Mit der ätherischen Vernunft kommt Hegel Goethe nah, denn dessen Methode der Natur- und Weltanschauung führt zum Aufspüren des Urphänomens. Aus den Erscheinungen schaffe Goethe ein ihrer selbst würdiges Inneres. So schrieb Hegel an Goethe am 20.2.1821. Diese Nähe zeigte sich auch im Leben, denn der Dichter freute sich über den Philosophen, der es so vortrefflich verstand, seine Naturanschauung in Worte zu fassen. Hegel wird von Steiner sogar als «Philosoph der Goethe’schen Weltanschauung» charakterisiert.(3)

Man kann sich vorstellen, wieso Steiner Hegel empfohlen hatte als Heilmittel gegen mystische Verschrobenheiten, die zu Steiners Zeiten weit verbreitet waren. Das Denken muss sich klar, sachlich und logisch entfalten dürfen, ohne die Einmischung des Denkenden und dennoch unter voller Beteiligung des Dabei-Seins. In diesem Sinne sei die Leibfreiheit gemeint, die Hegel anspricht. Rudolf Steiner bezeichnet Hegel als den größten Denker der neueren Zeit. «Aber er war eben nur Denker.» Hegel schaute noch nicht die geistige Welt, wie es Steiner später – nach dem Ende des ‹Kali Yuga›, des ‹finsteren Zeitalters› − möglich wurde. Diese Welt aber erschließe sich erst, indem das Denken nicht nur ausgebildet, sondern noch einmal völlig umgewandelt werde. Das Denken müsse sich auf diesem Wege selbst erkraften zu einem Erleben, «dessen Leib gewissermaßen Denken ist und der als Seele in sich den Geist der Welt aufnimmt».(4)

Die Empfehlung liegt im Folgenden: Günther Dellbrügger macht in seiner übersichtlichen und so wesentlichen Art ein Angebot, und wir als Lesende können im Nachvollzug einen ungeahnten Gewinn aus der Lektüre ziehen.

Die Lektüre ist nicht zu schwer, um nicht mitgedacht werden zu können, aber sie braucht das innere Beteiligtsein des Lesenden, um diesen Schatz vollends heben zu können. Somit grenzt sie an das Meditative, und die Hegel-Texte am Schluss des Bandes lassen alle ‹Thesen› Dellbrüggers in den Worten von Hegel erlebbar werden. Ein wunderbares Geburtstagsgeschenk an Hegel und an die Nachwelt durch einen so kompetenten Vermittler.


Günther Dellbrügger, «Das Wahre ist das Ganze» Hegels Ringen um eine menschliche Intelligenz, Urachhaus, Stuttgart 2020

(1) Günther Dellbrügger, «Das Wahre ist das Ganze». Hegels Ringen um eine menschliche Intelligenz. Stuttgart 2020, S. 41.
(2) Ebd., S. 40.
(3) Ebd., S. 74.
(4) Ebd., S. 72.

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