Vom aktuellen Drama in der Vogelwelt
Dieses Jahr klingt der Vogelgesang dünn – nicht bloß ‹dünner›, wie ja von Jahr zu Jahr immer unüberhörbarer. Wer vor 20 Jahren am frühen Morgen zur Dämmerung das Vogelkonzert belauscht hat, der konnte noch erleben, wie die Fülle der Vogelstimmen einen ganzen Chor aufbaute, der sich endlich wie ein Dom über und um einen herum aufspannte. Was wenige Minuten zuvor in der nächtlichen Stille noch der Sternenglanz am Himmelsdom war, wurde im Konzert der Vogelstimmen zu einem grandiosen Nachklang des Sternenglitzerns in der Morgendämmerung. Aber jetzt, im Jahr 2023? Es klingt, als wären die Segel bereits herbstlich fallengelassen. Ausgedünnt verebbt der Gesang ohne Aussicht, je so etwas wie einen Klangdom aufbauen zu können.
Intensivlandwirtschaft und Verbauung
Dass das nicht als ein bloß subjektives Erlebnis eines sentimentalen und dramatisierenden Vogelliebhabers abgestempelt werden darf, das zeigt eine Reihe von wissenschaftlichen Publikationen der letzten Jahre.1
Unserer Vogelwelt geht es schlecht. Eine erst jüngst im amerikanischen Fachjournal ‹Proceedings of the National Academy of Sciences›2 von knapp 50 Autoren publizierte Studie untersuchte die Ursachen des unübersehbaren Rückganges an 170 europäischen Vogelarten auf der Grundlage von Daten aus mehr als 20 000 Orten aus 28 europäischen Ländern über den Zeitraum von 37 Jahren. Ergebnis: Hauptursache für den Rückgang sind zuoberst die Intensivierung der industriellen Landwirtschaft durch den Einsatz von Pestiziden und künstlichen Düngern sowie als Zweites die ungebremste Überbauung durch die kontinentweit voranschreitende Urbanisation. Unter der Intensivlandwirtschaft leiden nicht etwa bloß die Vogelgemeinschaften der Feld- und Ackerlandschaft, vielmehr ist diese Intensivlandwirtschaft auch Hauptursache des Schwundes in allen anderen Landschaftsbereichen. – Warum? Weil vor allem der Einsatz von künstlichen Pestiziden zu einem eklatanten Schwund der Insektenwelt geführt hat. Allein in Deutschland soll die Insektenbiomasse in den letzten 30 Jahren um mehr als 75 Prozent zurückgegangen sein.3 Man stelle sich das vor! Womit auch sollen dann unsere Vögel noch ihre Jungen füttern können?
Tausende – Millionen – Milliarden
Damit nicht genug. Man führe sich außerdem noch die folgenden Zahlen vor Augen. Seit 1970 sind ungefähr 3,2 Milliarden Vögel, fast 30 Prozent der gesamten Brutpopulation Nordamerikas verschwunden.4 – Seit den 80er-Jahren des vorigen Jahrhunderts ist der Bestand der europäischen Vogelwelt um mindestens 600 Millionen Einzelvögel geschrumpft, was etwa einem Sechstel der gesamten europäischen Vogelpopulation entspricht.4 – Jedes Jahr landen durch illegalen Vogelfang nach konservativen Schätzungen zwischen 11 und 36 Millionen Singvögel auf den Speisekarten der Restaurants an den Küsten der Mittelmeerländer. Und: Allein in New York sterben jährlich um die 90 000 Vögel den Fenstertod, nicht allein aufgrund der Spiegelung, sondern vor allem nachts während der Zugzeiten, weil sich die Vögel durch das Licht der Städte und ihrer Wolkenkratzer von ihrer Zugroute abgezogen fühlen.5
Und in diesem Frühjahr gehen Schreckensmeldungen über eine Zoo-Pandemie (Panzootie) durch die Presse. Eine ‹bösartige› Variante der Vogelgrippe (Aviäre Influenza) – deren Ursprung nach wie vor in den maßstabslosen Massengeflügelhaltungen Ostasiens zu mutmaßen ist. Betroffen von der Epidemie ist vor allem die Welt der See- und Wasservögel. Tausende von verendeten Kadavern seien entlang ihrer Zugrouten schon aufgefunden worden.6 Siehe z. B.: Thomas Krumenacker, Pandemie am Himmel. ‹Der Spiegel› Nr. 19/2023. [/note]
Ausgeladen
Wir Menschen haben es mit Beginn des 20. Jahrhunderts geschafft, die nordamerikanische Wandertaube von unserem Erdenplaneten unwiederbringlich auszuladen. Lehrreich daran könnte sein: Rein rechnerisch betrachtet wurde man aus populationsbiologischer Sicht noch rechtzeitig genug wach, um diese Vogelart doch noch zu retten. Trotzdem verabschiedete sie sich endgültig. Am 1. September starb das letzte, ‹Martha› getaufte Exemplar der Wandertaube in einem Zoo in Cincinnati. In Anbetracht der auch heute noch unfassbaren Berichte über die regelrechten Massaker an einer einstmals unüberschaubar großen Population von Wandertauben zur Deckung des Fleischkonsums und aus ökonomischer Gewinnsucht kann ein solcher Rückzug einer Vogelart nicht wundern.7
Wen haben wir Menschen damit eigentlich ausgeladen? Beziehungsweise: Wen laden wir heute, jetzt – angesichts der oben genannten Zahlen – möglicherweise gerade aus? An verschiedenen Stellen seines Vortragswerkes weist Rudolf Steiner darauf hin, dass wir es bei unseren Vögeln mit einer ins Irdisch-Kleine zusammengezogenen Metamorphose von vorgeburtlich gigantisch großen Hierarchiengestalten zu tun haben.8 Ihre Anwesenheit, den Flügelschlag der Engelwelt, laden wir aus unserem irdischen Umfeld aus. Durch unsere Ignoranz gegenüber irdischen Lebewesen mit doch geradezu kindlicher, ja paradiesischer Unschuld – denn wie anders soll man unsere gefiederten Freunde, die Singvögel, deren Gesang uns jedes Jahr im Frühling mit frischer Lebensfreude beschenkt, beschreiben?
Silent Spring
1962, vor heute nun über 60 Jahren ging Rachel Carsons ‹Silent Spring› um die Welt. Ein Klassiker der Umweltbewegung, verfasst durch die Ermutigung und Unterstützung der beiden Eurythmistinnen und biologisch-dynamischen Gärtnerinnen Marjorie Spock und Mary Richards.9 Es ist zu hoffen, dass die Menschheit rechtzeitig genug erwacht, damit das damalige Szenario eines ‹stummen Frühlings› nicht nun doch noch und unversehens zu einer bitteren Realität wird.
Foto Peter Ertl
Footnotes
- Siehe z. B.: Simon Butler et al, Bird population declines and species turnover are changing the acoustic properties of spring soundscapes. In ‹Nature Communications›, Nov. 2021.
- Volume 120, Issue 21, May 2023.
- C. A. Hallmann, M. Sorg, E. Jongejans, H. Siepel, N. Hofland, H. Schwan et al. (2017), More than 75 percent decline over 27 years in total flying insect biomass in protected areas. PLoS ONE 12(10): e0185809.
- Scott Weidensaul, Auf Schwingen um die Welt. München 2022.
- Alexander C. Lees et al., State of the World’s Birds. ‹Annual Review of Environment and Resources› Nr. 47/2022: 6.1–6.30.
- Weidensaul a. a. O.
- Siehe z. B. den Bericht von Anita Albus in ihrem Buch: Von seltenen Vögeln. Frankfurt 2006, S. 11–20.
- Rudolf Steiner, Der Mensch als Zusammenklang des schaffenden, bildenden und gestaltenden Weltenwortes. GA 230, Vortrag vom 28. Oktober 1923.
- Dieter Steiner, Rachel Carson – Pionierin der Ökologiebewegung. München 2014.
Sehr geehrte Damen und Herren, Sie bieten bei jeder Sendung der Zeitschrift dasgoetheanum an, einen Probeartikel kostenfrei zu lesen. Ich schaue mir jedesmal die einzelnen Titel der Beiträge an und versuche einen herauszupicken, der mich anspricht. Ergebnis ist, dass ich mitgeteilt bekomme: „Sie haben ihren Gratisartikel des Monats gelesen.“, was nicht der Wahrheit entspricht. Zu einem Abonnement kann ich mich deshalb nicht entschließen.
Mit freundlichen Grüßen
Rudolf M. Huber
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Neutraler Bodensatz
Wer den Geist vergiftet
Und in Folge auch das Land,
Erscheint uns angestiftet
Und geführt von fremder Hand.
Lasst uns alphabeten !
Wir brauchen mehr Poeten,
Statt kalte Denkmaschinen-
Denn es leiden uns’re Bienen.
Was ist Stille ?
Was ist Klang ?
Was sind Wille und Gesang ?