Aufgewachsen im zaristischen Russland, gestorben in der Sowjetrepublik, übersetzt von Rosa Luxemburg, spricht sich Wladimir Korolenko (1853–1921) deutlich gegen die Verallgemeinerung des Elends aus. Sein jahrelanges Eintauchen in das Volk und seine inneren sozialen Zusammenhänge, die sich nicht aus der Theorie erklären lassen, erscheinen in seinen Erzählungen nicht in erster Priorität als ästhetische, sondern als gerechte Darstellungen des Lebens der Armen.
Warum wurde diese durch viel Leid erworbene humanitäre Autorität Russlands, Wladimir Korolenko, nicht neben den großen Dichtern dieses Landes als das gewürdigt, was er für viele Zeitgenossen war: ein erster ‹Menschenrechtler›?
Seine Kindheit durchlebte Wladimir Korolenko im Zarenreich in dem kleinen Dörfchen Schytomyr als eines von fünf Kindern des Landrichters Galaktion Korolenko. Der Tod des Vaters stürzte die Familie in bittere Armut, dennoch schloss der Junge die Schule mit Auszeichnung ab, ging nach Sankt Petersburg und nahm dort das Studium an der Technischen Hochschule auf. Später kam er nach Moskau und schrieb sich an der Akademie für Land- und Forstwirtschaft ein. Neben dem Studium engagierte sich Korolenko vielfach in studentischen revolutionären Bewegungen. Dies führte 1876 zu seiner Zwangsexmatrikulation sowie seiner Festnahme und Verbannung nach Kronstadt. Nach der Freilassung 1877 lebte er in Sankt Petersburg, wo er anfing, Erzählungen zu schreiben. 1879 wurde er erneut verhaftet und für sechs Jahre nach Sibirien verbannt. Dort arbeitete er in der Landwirtschaft sowie im Schuhmacherhandwerk und verarbeitete seine Eindrücke in mehreren Erzählungen.
Im Jahr 1885 kam Korolenko ins europäische Russland zurück und ließ sich mit behördlicher Erlaubnis in Nischni Nowgorod nieder. Dort schrieb er weitere Erzählungen für verschiedene Zeitschriften und wurde 1886 mit Leo Tolstoi und 1889 mit Maxim Gorki bekannt. Während der Hungersnot 1892 engagierte er sich für arme Bauern. Viele seiner Erzählungen beleuchten den schwierigen Alltag russischer Bauern.
1896 siedelte Korolenko erneut nach Petersburg über, wo er als Redakteur der Zeitschrift ‹Russkoje Bogatstwo› tätig wurde, die den Narodniki nahestand. 1900 ging er nach Poltawa und setzte sich dort unter anderem für die aufständischen Bauern sowie gegen die Hinrichtungen von Revolutionären nach dem gescheiterten Volksaufstand von 1905 ein. In dieser Zeit schrieb er eine Reihe von Erzählungen und Aufsätzen, von denen einige als regierungskritisch galten, weswegen die Staatsmacht mehrmals versuchte, Korolenko anzuklagen.
Nach der Oktoberrevolution 1917 und während des darauffolgenden Bürgerkrieges lebte er weiterhin in Poltawa, engagierte sich wohltätig und versuchte mehrmals, zwischen den Bürgerkriegsparteien zu vermitteln. 1921 starb er an einer Lungenentzündung. Sein wichtigstes Werk, die von 1905 bis 1921 entstandene autobiografische ‹Geschichte meines Zeitgenossen›, wurde vollständig erst nach seinem Tode herausgegeben. Dieses erste Buch wurde von Rosa Luxemburg übersetzt und erschien 1919 in Deutschland (Verlag Paul Cassirer, Berlin).
Dieser Dichter wurde zum nationalen Gewissen Russlands, weil er nicht nur die sozialen Verhältnisse beschreiben konnte, sondern sich konkret einsetzte und für die Autonomie des Menschen kämpfte. Er sagt von sich: «Ich bin einfach ein Schriftsteller, der für Recht und Freiheit für alle Bürger unseres Vaterlandes schwärmt und als Kämpfer überall dort auftritt, wo Recht und Freiheit verletzt werden.»
Das Elend der einfachen Menschen …
Eine kennzeichnende, ja direkt eine symbolische Darstellung des russischen Bauern gibt uns Korolenko in seinem Helden Makar aus dem ‹Traum des Makars›. Das ist der echte russische Bauer, der schwer arbeitet, arm lebt, Hunger und Kälte leidet. Gleichzeitig tritt hier die Korolenko so eigentümliche Art des soziologischen Herantretens an das zu lösende Problem hervor. Der Dichter zeigt uns zunächst die soziale Lage Makars. Sein Leben lang wird der arme Makar gehetzt. Es hetzt ihn der Dorfschulze, es hetzt ihn der Landrat, Steuern werden von ihm eingetrieben, der Pope verlangt Kirchenbeiträge. Das Elend plagt ihn, der Hunger und der Frost peinigen ihn, die Dürre, der Regen, der böse Urwald üben einen wirtschaftlichen Druck auf den armen Wicht aus. Er muss Holz fällen, als seine erste Frau krank liegt. Es ist ihm schwer ums Herz, er würde gern bei ihr sitzen, aber die Not treibt ihn in den Wald. Im Wald weint er, die Tränen gefrieren auf seinen Wimpern, und Kummer und die Kälte dringen in sein Herz. Aber er fällt Holz. Dann stirbt seine Frau. Sie muss beerdigt werden, er aber hat kein Geld. Wieder muss er sich zum Holzfällen verdingen, um für das ‹Haus› seiner Frau auf jener Welt zu bezahlen … Der Unternehmer sieht, dass ihn die Not drückt, und zahlt trotzdem nur zehn Kopeken. Die Alte liegt im ungeheizten durchfrorenen Haus, und er fällt weiter Holz und weint … So lesen wir buchstäblich in Korolenkos Erzählung.
… zur Sprache gebracht
An einer anderen Stelle zeichnet Korolenko uns das Bild eines Dorfes. Seiner Einstellung gemäß kommt er bald von der Schilderung des äußeren Anblicks zu wirtschaftlich-sozialen Betrachtungen und fragt nach den Bewohnern.
Er lässt die Bauern selber sprechen: «Sind wir denn Bewohner, sehen Sie uns einmal an. – Was sind wir für Bewohner, was ist da schon zu reden? Ein Bewohner, das ist ein Bauer, ein Wirt, ein selbständiger Mensch, im Gegensatz zum obdachlosen, wirtschaftslosen Bettler.» Es ist ein niederschmetternder, bedrückender Eindruck, den diese Worte: «Was sind wir für Bewohner?» auf den Dichter und den Leser machen, wenn man bedenkt, dass das ganze geschilderte Dorf jenes von sich aussagt. Erniedrigung, Trostlosigkeit, niedergeschlagene Augen, Scham vor der eigenen Existenz. Solche Dörfer hat Korolenko auf seinen Wanderungen dutzendfach gesehen und beschrieben, ja ganze Landstriche und Kreise. Darum sträubt er sich so sehr dagegen, wenn man vom ‹russischen Bauern› schlechthin spricht. «Das nämlich ist der springende Punkt», sagt er, «dass es einen einzigen unzertrennbaren, einfachen Bauern gar nicht gibt. Es existieren Fedots und Ivans, Arme und Reiche, Bettler und ‹Kulaks›, Gute und Böse, Sorgsame und Säufer, solche, die Land haben, und andere, die landlos sind, Wirte und Arbeiter.» Der laienhaften Intelligenz seiner Zeit schien das Bauernvolk einer Herde Spatzen gleich; einer sah wie der andere aus, nach dem Bilde des Erstbesten urteilte man über sämtliche Bauern.
Wahrgenommen werden – ein Menschenrecht
Korolenko liebte die Schönheiten der russischen Natur, liebte das einfache Volk und seine Typen, mit ihrem naiven Glauben, ihrem urwüchsigen Humor und der den Russen eigenen Nachdenklichkeit. Er betrachtete das Volk aber nie von der Seite, aus der Entfernung, wie etwa der Aristokrat Turgenev, sondern hat es verstanden, sich mit dem Volke zu verschmelzen. Er fand stets sofort den richtigen Ton und die richtige Art, an die Bauern heranzutreten. Er tauchte förmlich im Volke unter. Deshalb öffnete sich ihm, wie keinem anderen, die Volksseele.
Der Bauer lässt sich nicht gern von einem Städter interviewen, von einem der ‹Herren› ausfragen, auch wenn sie wie Turgenev als Jäger verkleidet zu ihnen kommen. Auch schildert Korolenko die Landschaften und Volkstypen nie aus der Perspektive seines Schreibtisches etwa oder aus dem Abteil des Eisenbahnwagens. Nicht im Lärm und Treiben des städtischen Kulturlebens, sondern auf der Landstraße fühlt sich der Schriftsteller wohl. Mit dem Rucksack auf dem Rücken und einem dicken Knüppel in der Hand durchwandert er fast ganz Russland. Ohne vorher aufgestellten Plan lässt er sich vielmehr vom Zufall treiben, schließt sich einmal einer Gruppe von Pilgern an, die einem wundertätigen Heiligenbilde zustreben. Ein andermal gesellt er sich den am Ufer des Flusses übernachtenden Fischern zu und plaudert mit ihnen beim Schein des Feuers, an dem sie ihre müden Körper ausstrecken. Ein drittes Mal mengt er sich unter die bunte Gesellschaft von Bauern, Holzhändlern, Soldaten und Bettlern, die auf einem Wolgadampfer reisen, hört ihnen zu und mischt sich in ihre Unterhaltung ein, und so in dieser Art fort die langen Jahre hindurch. Auf diese Weise sammelt er seine Eindrücke, ist nicht Beobachter von außen, der nur das äußere Bild sieht und es nach ästhetischen oder ähnlichen Grundsätzen beurteilt, sondern steht mitten im Volke und seinem Leben und lernt die inneren sozialen Zusammenhänge höher schätzen als all den anderen Tand, der ja auch nicht bedeutungslos und vielleicht auch sehr interessant, aber nicht in erster Linie für eine gerechte Darstellung maßgebend ist.
Die Sammlung beinhaltet fünf Erzählungen:Das Gebet der Sternennacht – Die erste Liebe – In schlechter Gesellschaft – Der Traum Makars – Die Nacht vor dem Auferstehungsfest.
Mit Anhängen von B. Lietow und Eugen Häussler und einer Vorbemerkung von Helmut Hauck. Karlheinz Flau hat das Buch mit sechs farbigen Illustrationen und einer Schwarz-Weiß-Zeichnung ausgestattet.
Jürgensendesign-Verlag, Ottersberg, 242 Seiten, Format 14,7 cm x 21 cm, ISABN 978-3-939240-41-9
Titelbild: Wladimir Galaktionovich Korolenko in 1885. Quelle: Wikipedia