Leserbrief von Nicholas Dodwell zum Artikel ‹Europa – Polarität als Paradox› in ‹Goetheanum› Nr. 18/2019 .
Europa ist eines der wichtigsten politischen Themen heute. Deswegen finde ich es begrüßenswert, wenn die Frage der eu in dieser Zeitschrift in Beziehung zur Dreigliederungsidee gesetzt wird. Da diese Idee für ihre Verwirklichung doch wohl am besten bei bestehenden Institutionen (und Menschen) ansetzt, ist es wertvoll, wenn Mario Damen als ‹EU-Praktiker›, der die Union von innen kennt, über dieses Thema schreibt und den Werdegang der eu und ihre gegenwärtige Verfasstheit von der Dreigliederung her interpretiert. Was mich beeindruckt, ist, dass Damen auch Dreigliederer mit anderer Haltung zur Kenntnis nimmt und mit einbezieht. Das könnte, so meine ich, der Anfang eines Diskurses sein, der dieser Zeitschrift und der Dreigliederungsbewegung in ihrem 100. Jahr gut zu Gesicht stünde. Spannend wäre es zum Beispiel, diesen Artikel zu kontrastieren mit demjenigen von Gerald Brei, ‹Europa am Abgrund› (in ‹Der Europäer› Nr. 6/7, April/Mai 2019).
Damen spricht von der Frage, wie die einzelnen Menschen sich mit ihrer nationalen Identität, ihrer volksmäßigen Zugehörigkeit heute in der eu wiederfinden können. Der gegenwärtig wachsende sogenannte ‹Nationalismus› und ‹Populismus› sind für mich Symptome dafür, dass das nicht gelingt. Die Aufgabe, die Rudolf Steiner der Menschheit 1910 gestellt hat in seinem Zyklus ‹Die Mission einzelner Volksseelen› (ga 121), dass nämlich «in nächster Zeit die Volksseelen sich selbst erkennen müssen», ist auch noch heute überhaupt nicht in genügender geistiger Vertiefung geschehen. Die Anthroposophie hätte dazu der Welt und Europa einiges zu bieten: neben dem besagten Zyklus Steiners zum Beispiel das dreibändige Werk Herbert Hahns ‹Vom Genius Europas›. Dieses Werk schürft viel tiefer als alles andere, was man heute zu diesem Thema hören kann. Wenn ein Mensch den Beitrag seines Volkes zum Menschheitsfortschritt wirklich erkennt, kann er auch den ‹Chor der Völker Europas› in seiner Harmonie wahrnehmen und hat es nicht mehr nötig, sein Volk über die anderen zu stellen.
Nicholas Dodwell
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Titelbild: Brüssel im Sommer 2019. Foto: Louis Defèche