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Alles ist Samenkorn

«Alles ist Samenkorn», mit diesem Wort von Novalis eröffnet Mario Betti sein Buch ‹Das Rosenkreuz, von der Einwohnung des Christus im Menschen›. Das Ursamenkorn des Buches ist die Meditation des Rosenkreuzes, wie Rudolf Steiner diese in ‹Die Geheimwissenschaft im Umriss› beschrieben hat, aber es gibt bei Betti mehrere Samen, Blüten und Früchte!


Man findet sie auf dem langen und tiefsinnigen Weg zur persönlich-intimen Erläuterung der Meditation, aber auch auf dem nachfolgenden Pfad können die Lebensfrüchte des Autors zu praktischen Samen bei den Lesern werden. Wie geht er seinen Weg zur Meditation? Wie kommt es zu der Einwohnung des Christus im Menschen?

Mario Betti beginnt seinen Weg mit einer bildhaften Beschreibung der Entwicklungsphasen der Pflanze, «die uns in eine Gesinnung von Bewunderung für die allumspannende Intelligenz und moralische Weisheit der Natur bringt». In dieser Stimmung kommen wir weiter. Innerlich auf dem «Pfad der Verehrung» geführt, skizziert er dann die Biografie des Jesus von Nazareth. Wir folgen Jesus, durch Betti geführt, auf seinem Weg zum Jordan, illustriert durch das ergreifende Gemälde von Alexander Iwanow ‹Das Erscheinen des Christus vor dem Volk› (1). Iwanow arbeitete 20 Jahre an diesem Gemälde! Die Einsamkeit des Jesus bei der Ankunft am Jordan ist erschütternd. Die Einweihung bei der Taufe im Jordan wird im Bilde der Innen-Außen-Dynamik einer stehenden Lemniskate geschildert: «In diesem Sinne stehen am Jordan der Sonnenlogos und Jesus so zueinander wie zwei leuchtende Schleifen einer zeitenwendenden Lemniskate: Göttliches will sich im Menschlichen verinnern. Menschliches ersteht neu im Göttlichen. Ein Drittes wird empfangen, dessen volle Geburt erst nach Ostern eine geschichtliche Tatsache wird: in der Auferstehung.» Nach der Jordantaufe werden wir zu Zeugen des weiteren Inkarnationsvorgangs des Christus in einem Menschen. Wir folgen ihm in die Wüste – «ein treffendes Bild für den geistigen Zustand der damaligen Menschheit» –, hören von der dreifachen Versuchung, von dem Wandeln in innerer Ruhe auf dem astralischen Meer, von der Verklärung auf dem Berg Tabor: «Die Menschwerdung Christi schreitet mächtig fort.» Um am Ende der Passionswoche, als das Kreuz auf Golgatha aufgerichtet ist und der Tod eintritt, zur vollendeten Involution zu kommen: der Geburt des neuen Menschen, des ‹neuen Adam›. Das war der Beginn einer neuen Evolution. Der alte Kosmos wird verjüngt. Mit der Feuertaufe des Heiligen Geistes an Pfingsten kann seitdem die geistige Sonne in uns geboren werden, wonach der Autor seine vorbereitenden Betrachtungen zur Meditation des Rosenkreuzes abrundet mit einer tieferen Deutung der Apokalypse des Johannes.

Die Meditation des Rosenkreuzes

Es gibt einen langen Anlauf, bis Betti zu seinem zentralen Samenkorn des Buches kommt, mit dem Kapitel ‹Das Rosenkreuz – Die Einwohnung Christi im Menschen›. Er fragt: «Durch welche Kraft wird die Wandlung unseres Blutes – das ist der Sinn der Übung – als Ausdruck von Begierden, Leidenschaften bewirkt, die alle ihren Quellpunkt in der Glut unfassbarer Selbstsucht haben? Eine Wandlung, die freilich ihre konkrete Wirklichkeit erst im Sozialen, in der Erkenntnis, in der Kunst oder in der religiösen Betätigung offenbart.» Bei kräftigem und geduldigem Aufbau, Wiederholung, Erneuerung und Festhalten des Rosenkreuzes im eigenen Bewusstsein kann diese Kraft verspürt werden. Es ist «eine Kraft, die, fast unmerklich in unseren ‹höheren Fähigkeiten› wirkend, unser irdisches Bewusstsein mehr und mehr belebt, erhellt und gleichsam auferstehen lässt». Die Seele pulsiert, nach Betti, in den inneren Bewegungen der Meditierenden einerseits und andererseits in der moralischen Verwandlung des selbstbezogenen Blutes in das Rosenrot der Blüten. Ein ‹Niederes› wird ‹vernichtet›, geht durch das Nichts, und die Sonne Christi kann eine Art Auferstehungsmetamorphose bewirken. Die ‹Lichtlemniskate› verbindet, gestaltet das Helle mit dem Dunklen, das Kosmische mit dem Menschlichen. Ein Drittes wird geboren … Und wenn im erhabenen Augenblick das Rosenkreuz seinen Bildschleier fallen lässt, dämmert im Widerklang des eigenen höheren Ich die Wirklichkeit des Auferstandenen auf. Es ist wie die zarte Erscheinung vor Maria Magdalena, die ihr sagte: «Noli me tangere», rühre mich nicht an. Denn die volle Christus-Erfahrung erlebt man in der Regel erst nach und nach in der Bewährung im konkreten Leben, im Rahmen unserer vielfältigen Beziehungen zu Menschen, Tieren, Pflanzen – zum ganzen Kosmos. Die Meditation des Rosenkreuzes entschleiert sich demnach für Betti als Weg zur Kraft der Einwirkung Christi im Menschen, als Rune, als krafterfülltes Samenkorn, um in das allgegenwärtige Christus-Mysterium aufgenommen zu werden, als Weg zum größten Geheimnis unseres Zeitalters, zum Geheimnis von dem Wiederkommen des Christus.

Das Rosenkreuz als Okular

Mario Betti schildert, wie das Rosenkreuz für ihn zu einem Schlüssel, einem Okular geworden ist für die Wirkung Christi im Sozialen. Er lässt uns teilhaben an seiner Entdeckung, dass der Gang durch die sieben christlichen Jahresfeste als Heilung für die siebenstufigen Folgen des Sündenfalls erfahren werden kann. Diese Feste sind eine Kraftquelle, um in der Gegenwart Christi einen geistig-sozialen Schulungsweg miteinander zu gehen. So ergänzt sich wunderbar der mehr mikrokosmische Aspekt der Wirkung des Rosenkreuzes. Im Kapitel ‹Ein Weg zur Neuordnung karmischer Beziehungen im Geiste des Rosenkreuzes› regt er an, wie man eine Ebene der Menschenbegegnung erreicht, bei der eine solche Freiheit im Ich waltet, dass auch schwere karmische Knoten mit der Zeit gelöst werden können. Im Sinne der Meditation des Rosenkreuzes handelt es sich dabei nicht darum, egoistische Begierden, Triebe und Leidenschaften zu bezwingen, sondern darum, sie zu überwinden. Denn beim Bezwingen werden sie sich «in eine andere Ecke des Unterbewussten einnisten, um bei einer späteren Lebenssituation mit Gewalt emporzubrechen […]. Das Ethos des Rosenkreuzes, so schmerzlich es sich auswirken mag ([…] wenn egoistische Empfindungsgewohnheiten gewissermaßen ‹vernichtet› werden […]), bedeutet Überwindung, Verwandlung, Metamorphose.» Anhand des ‹Parzival›-Epos zeigt er, wie nach seiner Erfahrung ein vierstufiger Weg gegangen werden kann, der sicher durch manche biografischen Klippen führt. Die vier Schritte sind wirksame Mittel, Karmasituationen so ins Auge zu fassen, dass das Ich Handlungshoheit behält. Neuordnung karmischer Beziehungen ist möglich durch die Kraft des Rosenkreuzes im Geiste der Sonnenlemniskate. Mit einer Betrachtung über Gemeinschaftsbildung im michaelischen Zeitalter rundet er sein reifes, tiefsinniges und liebevoll geschriebenes Buch ab.

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Das Buch ist für mich ein Weg der Entschleierung des offenbaren Geheimnisses des Rosenkreuzes. Hier ist ein Künstler an der Arbeit, der uns auch persönlich begegnet, mal poetisch, mal mosaikartig schildernd, doch immer klar und sorgfältig.

Das gesamte Buch überschauend, ist es für mich ein Weg zur Entschleierung des ‹offenbaren Geheimnisses› des Rosenkreuzes. Hier ist ein Künstler an der Arbeit, der uns auch persönlich begegnet, mal poetisch, mal mosaikartig schildernd, doch immer klar und sorgfältig. Sein Buch ist nicht einfach, Grunderkenntnisse der anthroposophischen Geisteswissenschaft sind notwendig, und langsames Lesen hilft, um die Bilder in der Seele aufzunehmen und reifen zu lassen. Seine Forschungsergebnisse sind originell, enthalten persönliche Erfahrungen, Erzählungen, Bilder und Imaginationen. Und Entdeckungen: Das Anwenden des dreifachen oder allegorischen Schriftsinns macht es Betti möglich, Texte nach Leib, Seele und Geist durchsichtig zu machen. «Denn wie der Mensch besteht aus Leib und Seele und Geist, ebenso ist es mit der Schrift.» (2) Auch hat er entdeckt, dass die Stufen der Meditation des Rosenkreuzes eine ähnliche Struktur haben wie die vier Hauptphasen der Messe oder der ‹Menschenweihehandlung› der Christengemeinschaft. «Sie entsprechen den Stadien aller echten Mysterien.» Außerdem entwickelte er einen Übungsweg, um den Gehörsinn in vier Facetten zu benützen, gleichsam als Schlüssel zu dem Innenraum des sich aussprechenden Mitmenschen.

Zum Schluss möchte ich gerne bemerken, dass das durch Mario Betti in der Meditation des Rosenkreuzes erwähnte vielschichtige Geschehen der Auferstehung zu weiterer Forschung herausfordert. Vor allem wäre ein Vergleich mit dem monumentalen dreibändigen Werk von Frank Linde ‹Die Auferstehung im Werke Rudolf Steiners› (3) hochinteressant. Der durch Betti benutzte Begriff ‹Auferstehungsleib› ist zum Beispiel – nach Linde – nicht bei Rudolf Steiner zu finden, wenn Linde als Ergebnis seiner Forschung schreibt: «Die Auferstehung ist kein Leib, sie ist ein Vorgang, ein Prozess, eine Tat, die Christus vollbringt, indem er den Tod überwindet.» Doch eben diesen Prozess der Auferstehung hat Mario Betti in der Tat der Meditation des Rosenkreuzes erfasst und zur Erscheinung gebracht!


(1) Alexander Iwanow, 1805–1858.
(2) In: Peri Archon, zitiert nach: Robert Spörri, in: Vom Geiste des Urchristentums. Basel 1941, S. 104 f.
(3) 2015, Herausgeber: Ernst-Michael-Kranich-Stiftung, 4. Band (2), S. 723

Titelbild: Philipp Tok

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