Zu Christian Labharts autobiografischem Film ‹Passion – Zwischen Revolte und Resignation› (2018).
Der Film beginnt mit der Stimme von Bert Brecht, der die erste Strophe seines Gedichts ‹An die Nachgeborenen› liest. Der Filmerzähler, der Regisseur, erklärt seine Ausgangsposition: Zürich 1968, ein Sommer, der sein Leben veränderte, er war damals 15 Jahre alt. Man war voller Utopien, Utopien einer gerechteren Welt: ‹Keine Macht für niemanden› und ‹Niemals werden wie die Eltern›. Gegen Ende dieses Vorspanns fragt sich der heute über 60-jährige: Und was ist von meinen Utopien geblieben? Damit sind die Ausgangslage und das Ziel des Films klar.
Es könnte nun ein Interviewfilm oder ein Dokumentarfilm folgen. Labhart macht es den Zuschauern absichtlich nicht so einfach. Üblich bevorzugte Einteilungen wie Spiel-, Dokumentarfilm oder Live-Übertragungen von Sportspielen, Diskussionsrunden oder Nachrichten greifen hier nicht. Es ist als Autorenfilm ein Kunstfilm geworden, wo es keine allgemeinen Regeln und kaum formale Grenzen gibt. Labhart nutzt die Montage und den klassischen Kuleschow-Effekt, baut ihn aus, indem er mit dem gesprochenen Text nicht nur manipulative oder illustrative Kurzinformation gibt. Der Bildebene setzt er gediegene literarische Texte und knappe Selbstreflexionen entgegen, die das Gezeigte kritisch, skeptisch oder ironisch und immer aus der Distanz beleuchten. In diesem Sinne können die über die ganze Filmlänge verteilten Ausschnitte aus Bachs ‹Matthäus-Passion› als solides, altes europäisches Kulturgut und musikalische Gegenkultur zu den großen vergänglichen Bildern und Filmbildern des Vergänglichen genommen werden. Mehr noch als in der Folge der Bildsequenzen spielt sich der Film im Zuschauer ab, nämlich in der Dialektik zwischen Bild und Ton, zwischen Bildern, die uns vielleicht eher resignieren ließen, und den je individuell aufbegehrenden Stimmen.
Gleich mit Filmbeginn eine erste Irritation: im Bild ein gigantisches Polizeiaufgebot, im Ton die ‹Matthäus-Passion›. Eine zwiespältige Ouvertüre? Ja, wenn man die Musik wie üblich im Film als illustrative, stimulative Untermalung nimmt. Labhart setzt die Musik durch den ganzen Film als kulturellen Kontrapunkt zu den Bildern ein. Die Musik wird hier nicht beiläufig eingesetzt, sondern übernimmt einen überragenden Gegenpart. Nun dämmert vielleicht schon, dass mit dem Filmtitel ‹Passion› weniger glühende Leidenschaft gemeint ist als vielmehr Leiden, ein Leidensweg zwischen Aufbruch und Resignation. Ist es ein Film aus der Reflexion und Resignation? Der schmerzhafte Ausdruck dafür, dass die Welt ganz anders geworden ist, als der Erzähler sie sich als Jugendlicher erträumt hatte? Labhart steht zu seiner Utopiesehnsucht nach einer gerechten Welt, seiner (leidenschaftlichen) Hoffnung auf einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz: «Ich stelle nicht das Ziel infrage, bloß weil wir noch nicht dort angekommen sind.» Der Film endet mit der vollständigen Lesung von Brechts Gedicht. «Ihr aber, wenn es so weit sein wird / Dass der Mensch dem Menschen ein Helfer ist / Gedenkt unserer / Mit Nachsicht.» Dazu vorwiegend Nahaufnahmen von Menschen, Gesichtsausdrücken, die, auf der Folie der Verse gelesen, ihren Ausdruck verändern, ins Nachdenken zu geraten scheinen. Brechts Gedicht ist in den 30er-jahren im Exil entstanden. Mit den Nachgeborenen können wir angesprochen sein, eher noch sind viele Generationen nach uns gemeint, wenn es gelingt, die Entfremdung, die Zerstückelung der Welt zu überwinden oder zunächst einfach mal zu überleben und der Mensch dem Mitmenschen ein mithelfender, mitleidender Mensch geworden ist.
Wie fühlt/sieht/hört sich Einzelschicksal im Gang der vielschichtigen, zeitgleichen Geschichte an? Der Syrienkrieg, die weltweiten Flüchtlingsströme hier, unser Wohlstand und der geradezu irrsinnig anmutende Freizeitunterhaltungsbetrieb dort. «Diese Parallelität der Ereignisse ist für mich kaum auszuhalten.» Labhart findet zusammen mit seinen zwei Kameramännern einleuchtende, über sich hinausweisende Bilder (z. B. den endlosen Containerverkehr) für Zeitstimmungen oder kulturdiagnostische Aufdeckungen des linken Philosophen Slavoj Žižek: «In unserer globalen Welt zirkulieren Waren frei, nicht aber Menschen.» Oder er kontrastiert urbane Einblicke mit der Parabel ‹Der Bau› von Kafka. Die ruhigen, dokumentarisch abtastenden Aufnahmen des gewaltigen Buzludzha-Monuments der sozialistischen Bewegung Bulgariens (zerfallend, mit exzessiven Graffiti im inneren Rundbau, Betreten verboten, Einsturzgefahr) reichen aus für ein superrealistisches Symbolbild der Resignation und Vergänglichkeit. Das Zitat aus Dorothee Sölles Klagegebet ‹Babylon› vermag da kaum noch etwas hinzuzufügen.
Der Film selbst und seine geradezu lyrische Machart sind Teil der Kultur, die sich freundlich abhebt und von vielem distanziert, was uns das Kameraauge vorhält. Zur ironischen Konsequenz des Films gehört es, dass die Veranstalter der gewichtigsten Werkschau des Schweizer Films, der Solothurner Filmtage, darauf verzichteten, diese wertvolle und authentische Stimme eines Zeitgenossen in ihr diesjähriges Programm aufzunehmen. Auch die Filmtage (ein Kind der 60er-Jahre) haben ihre eigene Geschichte zwischen Revolte und Resignation beziehungsweise ‹Ignoration› zu bestehen.
Bild: Christian Labhart, Passion – Zwischen Revolte und Resignation (2018), 80 Min., ab 18. April in den Schweizer Kinos.