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Die Welt von morgen wird keine westliche Welt sein

Hans-Christof von Sponeck war 32 Jahre als Diplomat im Dienste der UNO in führenden Positionen in verschiedenen Ländern tätig, in der Türkei, in Pakistan, Indien und dem Irak. Als Mitarbeiter von Kofi Annan trug er von 1998 bis März 2000 die Verantwortung für das UN-Hilfsprogramm ‹Öl für Nahrungsmittel› im Irak. Bernhard Steiner fragte ihn, wie er die Situation der Welt heute versteht.


Blicken wir zuerst einmal zurück. Warum sind Sie im Februar 2000 zurückgetreten?

Weil bei mir immer stärker das Gefühl der Mitschuld auftrat, der Mitschuld, an einer Politik mitzuwirken, die eine unschuldige irakische Bevölkerung bestrafte, für etwas, was sie nicht getan hatte. Weil ich auch merkte, dass ich in meiner Funktion nicht in der Lage war, die Politik, die grundsätzliche Politik des UNO-Sicherheitsrates, wirklich zu beeinflussen. Wenn man berichtet und dann bemerkt, dass man wie in einem großen Gehäuse mit Zahnrädern mit dem eigenen Zahnrad nicht greift, dann ist das ein gravierendes Problem. Ich war nicht bereit, mich von den Regierungen in Washington und London, zwei der fünf permanenten Mitglieder des UNO-Sicherheitsrates, missbrauchen zu lassen.

Sie haben 2003 vor den Folgen einer Invasion in den Irak gewarnt. Alles, was Sie beschrieben haben, ist ja ein Stück weit eingetreten!

Ich würde sagen, das ist nicht nur ein Stück weit eingetreten, sondern es ist viel gravierender geworden, als man sich das vor der völkerrechtswidrigen Irak-Invasion von 2003 vorstellen konnte. Es ist heute in allen Bereichen schlimmer, als es zur Zeit der Sanktionen und der Diktatur gewesen ist! Acht Jahre der US-Besatzung (2003–2011) haben die Tore weit geöffnet für eine vertiefte ethnisch-religiöse Spaltung des Landes. Korruption, zu allen Zeiten ein großes Hindernis für nationalen Fortschritt, hat laut Transparency International (2017) neue Höhen erreicht. ISIS (Islamischer Staat im Irak und in Syrien), der Krebs des Islams, konnte sich ausbreiten und hat über den Irak hinaus die geopolitische Landschaft im Nahen Osten grundlegend verändert. Obwohl Mosul, die Hochburg des ISIS und die zweitgrößte Stadt des Landes, von den nationalen Streitkräften 2017 zurückerobert wurde, bleibt die Sicherheitslage weiterhin äußerst volatil. Dies erklärt auch, warum Iraker weiterhin ins Ausland fliehen. In den ersten vier Monaten dieses Jahres (2018) waren Flüchtlinge aus dem Irak mit fast 6000 Personen in Deutschland die zweitgrößte Gruppe.

Einige sprachen ja im Falle der drastisch erhöhten Kindersterblichkeit im Irak von einem Genozid.

Ich habe viele Jahre Hemmungen gehabt, dieses Wort zu benutzen. Durch die Forschungen, die zum Beispiel von UNICEF, IPPNW und anderen gemacht worden sind, und auch durch die Gespräche, die ich geführt habe, bin ich heute sehr viel selbstsicherer geworden. Zu sagen, dass Artikel 2 der Genozid-Konvention verletzt wurde, scheint mir daher heute sehr viel vertretbarer als zuvor. Dieser Artikel 2 besagt: Wenn erwiesen ist, dass ein Plan existiert, um eine Gruppe ganz oder teilweise in ein Unglück zu stürzen, dann kann man davon ausgehen, dass die Genozid-Konvention verletzt wurde. Ich will damit nicht sagen, dass im Sicherheitsrat ein solcher Plan existierte. Gleichzeitig ist aber wichtig zu betonen: Wenn Jahr für Jahr die Folgen einer falschen UNO-Sicherheitsratspolitik weitgehend ignoriert werden, und dies trotz der Berichte von UN-Beamten im Irak, und die Sanktionspolitik sich nicht ändert, dann gibt es triftige Gründe für die Anklage, dass bewusst eine Politik der Zerstörung einer Gruppe durchgeführt und damit Völkerrecht verletzt wurde. Die Anklage geht nicht nur an die Regierungen in Washington und London, sondern die Anklage geht an alle 15 Mitglieder des Sicherheitsrates, die sich bewusst oder zögernd oder unbewusst an einer falschen und folgenschweren Politik beteiligt haben. Das muss aufgearbeitet werden! Multilaterale Iran-Sanktionspolitik ist der Beweis, dass man über die Folgen nichts gelernt hat, oder härter gesagt: nichts lernen wollte.

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Es ist genug da für die Bedürfnisse von jedermann, aber es ist nicht genug da für die Gier von jedermann.
— Gandhi

Darauf haben Sie ja immer wieder hingewiesen und diesen Punkt auch in Ihrem Buch ‹Ein anderer Krieg› angesprochen.

Viele Anläufe, dem Sicherheitsrat kontinuierlich zu berichten, sind gescheitert. Die Mächte des Augenblicks hielten dies für unnötig. Die Vertreter Washingtons und Londons belehrten ihre Kollegen im Sicherheitsrat und UNO-Generalsekretär Kofi Annan, dass Personen wie mein Vorgänger, Denis Halliday, und ich gar nicht kompetent wären, Stellung zu nehmen. Es ging ihnen nicht darum, humanitäres Völkerrecht zu achten, unschuldige Menschen zu schützen und einer Einrichtung des Friedens, den Vereinten Nationen, zu erlauben, ihre Arbeit zu tun, auch als eine moralische und ethische Verpflichtung. Es ging um eine machiavellistische Machtpolitik. Dies bleibt eine Tragik. Tragisch ist auch, dass der Generalsekretär nicht schneller gegen einen sich anbahnenden Krieg Stellung genommen hat. Ich habe über Kofi Annan nur Gutes zu sagen, aber er hätte sehr viel früher reagieren müssen, und zwar so reagieren, dass er spätestens am 5. Februar 2003, also fünf Wochen vor dem Beginn dieser illegalen Invasion, seinen Rücktritt hätte einreichen müssen. An diesem Tag wurde im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen der Außenminister der Vereinigten Staaten, Colin Powell, angehört, der, wie wir heute wissen, seinen Kollegen und der zuhörenden Welt unehrlich etwas über die Ernsthaftigkeit der (nicht-)existierenden Massenvernichtungswaffen im Irak erzählt hat.

Und heute …?

Ich sehe die Gefahr, dass wir uns heute in einen neuen, noch gefährlicheren Kalten Krieg hineinbewegen. Man braucht nicht Politiker zu sein, um zu sehen, dass die Art und Weise, wie wir uns mit Russland auseinandersetzen, wie der Westen weiterhin einen nicht zu gewinnenden Krieg in Afghanistan führt, wie wir mit den Nachbeben eines völkerrechtswidrigen Eingriffs in Libyen umgehen und uns mit den Krisen in Palästina/Israel und Syrien befassen, zu neuen und großen Konfliktherden führen muss. Wir bekommen jetzt die Rechnung für den fatalen Doppelstandard, mit dem wir auf unserer westlichen Einbahnstraße immer wieder gefahren sind. Darf man sich wundern, wenn der Iran nach dem Austritt der USA aus dem Nuklearabkommen im Mai 2018 jetzt sagt: Wir hatten uns in den 5+1-Verhandlungen geeinigt, die Atomgefahr zu bannen, und nun wird dieses Abkommen von den USA gebrochen. Im Iran werden wir jetzt tun, was wir wollen, denn die USA tun, was sie wollen, nämlich an einer neuen Generation von Nuklearwaffen zu arbeiten. Warum sollen wir uns nicht dagegen schützen?

Letztlich gehört es zu den großen Herausforderungen für den Frieden in unserer Welt von heute, die Schere zwischen Arm und Reich zu schließen, die Rückkehr zu globalen Regeln durchzusetzen und Rechenschaftspflicht für alle zu garantieren.

Und noch etwas für uns, die wir im Westen leben, dem Ort von 800 Millionen Menschen oder von weniger als 10 Prozent der Weltbevölkerung: Die Welt von morgen wird keine westliche Welt sein. Wir sollten dies erkennen und bereit sein, Konvergenz und Kompromiss in der ‹Neuen Welt› gelten zu lassen! Mögen wir den Rat von Mahatma Gandhi nicht vergessen: «Es ist genug da für die Bedürfnisse von jedermann, aber es ist nicht genug da für die Gier von jedermann.» Wir haben genug, wir müssen es nur besser verteilen.


Foto: Qadisiyah, Bagdad, Irak

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