Gespräch zwischen Andreas Heertsch und Wolfgang Held zu einem neuen ‹Goetheanum Forum›
Es gibt vermutlich keine spirituelle Organisation, in der nicht verschiedene Haltungen und Vorstellungen sich gegenüberstehen. Wie jeder natürliche Organismus, der fortwährend die Kräfte von Auf- und Abbau, von Empfänglichkeit und Identität, von Auflösung und Erstarrung in der Waage halten muss, so braucht auch jede Organisation die ständige Integration. Im Gespräch mit Andreas Heertsch, Physiker am Verein für Krebsforschung und im Vorstand des Zweiges am Goetheanum, fragen wir, was das Goetheanum zu solch einer Gesprächskultur beitragen kann. Ausgangspunkt war der Artikel ‹hässliche Weckwesen› im ‹Goetheanum› Nr. 16. Im Schlusssatz hatte ich im Nachklang zur Generalversammlung nach «Großherzigkeit» gefragt. Andreas Heertsch fragte nun, wie es mit der Großherzigkeit des ‹Goetheanum› stehe. Dann nennt er einige Bedingungen für eine solche Gesprächskultur. Am Anfang möge immer stehen: «Ich nehme dich ernst!», da gehe es um gegenseitigen Respekt. Denn es sei doch Unsicherheit, die den anderen dazu bringe, sich hinter einer Idee zu verschanzen und in der Argumentation fundamental zu werden. Den anderen «sicher machen» sei das Eintrittstor in die Gesprächskultur. Was mir an Sicherheit fehle, so Andreas Heertsch, das substituiere ich schnell durch Rüstung. Zum Gespräch gehöre, dass ich den anderen, auch wenn mir dessen Haltungen und Handlungen fremd, ja unheimlich erscheinen, nicht aus einer Verschwörertheorie bewerte. Sondern ihm so zuhöre, dass er das Gefühl gewinnt: Der will mich verstehen. Ein historisches Beispiel: Die Reformatoren, die Bilder und Plastiken aus den Kirchen bannen wollten, handelten aus der Überzeugung, dass dies alles vom schlichten Zugang zu Gott ablenke. Die sie bewahren wollten, sahen in ihnen dagegen Verherrlichungen Gottes, die dem Gläubigen den Zugang weisen können. Beide Seiten handelten aus Liebe zu ihrer Religion und ihrem Gott. Aber beide hielten die jeweils anderen für Ketzer und mieden einander.
Ja, ergänzt Andreas Heertsch, jedenfalls sollte Bejahung des anderen, das lehre jede Mediation, am Anfang stehen. Wenn ein Dritter dann sagt: «Aber es können doch nicht ‹beide› recht haben!», dann kann man nur beipflichten: «Stimmt, du hast auch noch recht.» «Die Welt ist komplizierter, als die Idee uns glauben machen möchte», führt Andreas Heertsch aus. Die Idee trete gerne mit Alleinvertretungsanspruch auf: ‹Es geht nur so.› Es gehe doch darum, den anderen erst einmal zu verstehen und zu suchen, ob es nicht einen Ort gibt, von dem aus man in die gleiche Richtung schauen kann. Das Leben zu achten, bedeute deshalb, die Vielfalt zu lieben. An der kürzlichen Eurythmietagung hat Michael Werner aus dem Organisationsteam eine Beobachtung beschrieben: Früher haben wir die Vielfalt geduldet, jetzt ‹wollen› wir sie.
Es gibt im Interview keine Lösungsansätze
Zuschrift von Nikolaus Johannes Heidorn zu ‹Die Zukunft des Goetheanum›, Paul Mackay und Bodo v. Plato im Gespräch im ‹Goetheanum› Nr. 10, März 2018
Leider muss ich meine Besorgnis über die Zukunft des Goetheanum zum Ausdruck bringen. In dem abgedruckten Interview wurden viele zukunftsrelevante Probleme überhaupt nicht berührt, geschweige denn Lösungsansätze skizziert, obwohl sie im selben Heft besprochen wurden. 1. ‹Die Überwindung des strukturellen Defizits› (Anthroposophie Weltweit S. 3 ff.) ist ja eigentlich kein finanzielles Problem, sondern Ausdruck eines geistigen Problems. Dieses geistige Problem muss zuerst benannt werden, um eine geistige Lösung zu finden. Solche Wege sind möglich. Auch finanziell bankrotte Waldorfschulen haben sich neu aufstellen können. Das wird im Interview ausgeblendet. 2. Die ‹Gesprächsbegegnung des Vorstands der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland mit Teilnehmern eines Kolloquiums zur übersinnlichen Wahrnehmung› (Mitteilungen der Anthroposophischen Arbeit in Deutschland, März 2018) zeigt, dass anthroposophische übersinnliche Arbeit heute möglich ist und weite neue Räume eröffnet. Ich hatte mir von dem Interview eine Würdigung oder kritische Einordnung dieser neuen Bestrebungen im 21. Jahrhundert erhofft. 3. Die Arbeit in den Zweigen besteht fast nur noch aus über 60-Jährigen. Die Vergreisung nimmt zu. Auch hier habe ich vergeblich auf eine Thematisierung von neuen Formen anthroposophischer Arbeit mit im 21. Jahrhundert Geborenen gehofft. Die Interviewten beschreiben die Anthroposophie als «beobachtungs- und sinnesorientiert», ohne diesen Anspruch in ihrem eigenen Interview einzulösen, in dem sie sich mit sich selber und ihrem eigenen Charakter («ästhetischer Sinn», das «Weltoffene», das «Weltweite») und der «Weltbezogenheit» der Anthroposophie auseinandersetzen.
Es gibt in diesem Interview keine Lösungsansätze für die neue geistige Situation im 21. Jahrhundert. Das ist nicht nur traurig, sondern gibt auch einen sehr pessimistischen Ausblick für die Zukunft.
Das kann nur jenseits von Revolution und Tradition bewältigt werden
Leserbrief von Mario Betti zu ‹Einheit und Spaltung› von Louis Defèche im ‹Goetheanum› Nr. 14, April 2018.
Wer bei der letzten Mitgliederversammlung nicht dabei war und diesen ‹historischen Moment› nicht direkt erleben konnte, ist dankbar für jede Berichterstattung. Der Autor des Berichtes, Redakteur der Zeitschrift, äußert dabei ein doppeltes Bedauern: dass der Wunsch der Leitung nicht erfüllt worden sei und dass «nur 1000 Mitglieder, vorwiegend aus der Umgebung, sich an dieser Entscheidung beteiligen konnten, während die Gesellschaft aus etwa 45 000 in der ganzen Welt lebenden Mitgliedern besteht».
Was meines Erachtens in einem Bericht, der doch einen objektiven Charakter haben sollte, absolut nicht geht, ist das unterschwellige Suggerieren, das Ganze sei deshalb so bedauernswert, also schiefgelaufen, weil «nur» 1000 Mitglieder, «vorwiegend aus der Umgebung», zugegen gewesen sind. Was aber nur impliziert, dass die «aus der Umgebung» irgendwie befangen gewesen sein müssen. Oder soll das etwa heißen, dass, wenn die restlichen 44 000 dabei gewesen wären, die also «in der ganzen Welt lebenden Mitglieder», ein anderes Ergebnis herausgekommen wäre? Dass sie also eine «objektivere» Sichtweise über die Dornacher Vorgänge gehabt hätten als die, welche die Möglichkeit haben, Geschehnisse öfter zu beobachten? Sind Letztere also plötzlich ‹Verschwörer› geworden? Und: Besteht nicht dieses ‹Problem› schon seit den Anfängen der Anthroposophischen Gesellschaft? Wie wäre es, wenn, statt zu bedauern oder anzuklagen, auch die Goetheanum-Leitung dieses Votum als einen wichtigen Wink von einer geistig wachen Zeitgenossenschaft annehmen würde, ihren Kurs etwas zu ändern, möglicherweise in Dankbarkeit den ‹Abtrünnigen› gegenüber? Sind wir nicht alle in der Verfolgung unserer Ziele auch auf die Korrektur unseres karmischen Umkreises angewiesen?
Ich kenne und schätze Paul Mackay und Bodo von Plato und sehe diesen Vorgang auch im Sinne einer Tragik, die systemimmanent ist: Würden wir alle eine echte Dialogkultur pflegen, mit offenen Ohren und Herzen, dann wäre es unter Umständen nicht zu einer solchen Konfrontation gekommen. Abgesehen davon, dass m. E. eine Mitgliederversammlung nicht dafür da sein sollte, über geistige Kompetenzen zu entscheiden. Hier ist eine Reform im Sinne des guten Zeitgeistes fällig. Und die kann nur gemeinsam bewältigt werden, jenseits von Tradition und Revolution.
Antwort von Louis Defèche
Lieber Herr Betti,
Ich bedauere, dass Sie meinen Text als suggestiv empfinden. Ich habe nicht gemeint, dass die Wahl anders ausgegangen wäre, wenn sich alle Mitglieder hätten beteiligen können. Ich denke auch wie Sie, dass «eine Mitgliederversammlung nicht dafür da sein sollte, über geistige Kompetenzen zu entscheiden», deshalb haben Sie vielleicht in meinem Text eine gewisse Betroffenheit lesen können. Suggestionen oder Anklage gab es meinerseits nicht, weder in meinem Herzen noch explizit in meinem Text. Am Schluss meines Artikels können Sie lesen, dass ich Ihre Auffassung teile, dass noch einiges zu leisten ist, um die Risse innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft zu überwinden. Ich unterstreiche Ihren Wunsch, «eine echte Dialogkultur [zu] pflegen, mit offenen Ohren und Herzen». Ich hatte weiter nicht das Ziel, einen kalten Bericht zu schreiben, sondern eine persönliche Perspektive aus der Redaktion zu geben. Dass wir als Mitarbeitende des Goetheanum unsere Kollegen schätzen, kann man auch als sachlich und respektvoll betrachten, nicht wahr? Kurz: Ich bin mit Ihnen einverstanden, möchte aber Ihre Unterstellung – Sie sprechen von «unterschwelligen Suggestionen» – klar zurückweisen.
Einseitigkeiten werden nicht besser, wenn man sie durch andere Einseitigkeiten ersetzt
Zuschrift von Hanns-Michael Haldy zu ‹Stereotypen 2› von Johannes Thiele im ‹Goetheanum› Nr. 9, März 2018
Sehr geehrter Herr Thiele, ganz verstehe ich Ihren Text nicht. Ist er eine Buchrezension, ein politischer Kommentar oder eine Kolumne? Es wäre hilfreich, wenn die Absicht dieses Textes sich klarer zeigen würde. Bei aller möglicher berechtigter Kritik an einseitiger politischer Wahrnehmung – hier eine beschriebene einseitige negative Wahrnehmung von Putins Russland –, so ist doch Ihr Text gerade ein gutes Beispiel, wie wenig differenzierte Gedanken heute veröffentlicht werden. Was ist Ihre Haltung und Aussage? Warum machen Sie mit so viel Furor Werbung für dieses Buch?
Ihr Text impliziert, dass Menschen, die eine andere Haltung haben als Sie und die genannte Schriftstellerin, Opfer ominöser Manipulationen sind. Was im Umkehrschluss eine Aufwertung von Ihnen bedeutet – denn Sie, sehr geehrter Herr Thiele, haben ja die Sachlage klar durchschaut und lassen sich nicht manipulieren.
Allerdings sind Ihre Argumente dürftig. In Ihrem Text reicht es, eine Person zur Märtyrerin zu überhöhen (anhand der Widersprüche, die sie erfährt) und mögliche (nicht genannte) Gegenargumente als orchestrierte Manipulationseinseitigkeiten zu diffamieren. Es kommt die Frage auf: Sind die kapitalistisch-demokratischen Gesellschaften und Medien wirklich unfreier, manipulativer und bellizistischer als die des autokratischen Putin-Russlands? Einseitige Wahrnehmungen werden nicht dadurch besser, dass man sie durch eine andere Einseitigkeit ersetzt. Genau das versuchen Sie aber mit Ihrem Text. Das ist kein Erkenntnisstreben, sondern Agitation.
Herzliche Grüße vom Regenwurm
Zuschrift von Manfred Klett zu ‹Aufrichtigkeit in der Erde› von Wolfgang Held im ‹Goetheanum› Nr. 6, März 2018
Ihre Ausführungen über unsere (partiell) senkrechte Lebensweise haben wir mit großem Interesse gelesen und danken Ihnen sehr, dass unserer an so erlauchter Stelle der Wochenschrift gedacht wurde. Erlauben Sie uns dazu eine Bemerkung: Da wir sehr auf Reinlichkeit bedacht sind, tragen wir den größten Teil unserer Losung entgegen der Schwere bis hinauf auf die Erdoberfläche. Wie uns bekannt geworden ist, sollen es auf Böden, die von uns dicht besiedelt sind, wie zum Beispiel auf biologisch-dynamisch gepflegten Fluren, bis zu 100 t/ha und Jahr sein. Man lobt uns ob dieser Verjüngungsaktion der alternden Böden. Im lockeren, porenreichen Oberboden, wo wir auf Nahrungssuche durch Leibesdruck auch horizontale Gänge formen, dient die Losung zur Festigung der Wände und zum Zustopfen von Hohlräumen. Mithilfe unserer eigenen Substanz verstehen wir uns als Plastiker des Erdig-Festen.
Die harte Erde, die uns zarten Wesen in den senkrechten Wohnröhren Stütze gibt, belegen wir akkumulierend bei jedem Herauf- und Heruntergleiten mit einer hauchdünnen Schleimschicht, die wir von unserer Körperoberfläche absondern. Sie stabilisiert unser Stützskelett und hält uns die Atmungswege frei.
Wir hoffen, uns verständlich gemacht zu haben, und grüßen Sie von Haus zu Haus. Ihre Lumbricidi terrestrii, landläufig auch Tauwürmer genannt. – Ich wollte die Tau-Regenwürmer selbst sich zur Sache äußern lassen.
Zeichnung von Philipp Tok