Angsttriebe nennen Forstleute das übersteigerte Wachstum in den Baumkronen kranker Bäume. Ähnlich erscheint gegenwärtig das Muskelspiel einiger Nationen. Kai Ehlers greift zu Rudolf Steiners ‹Sozialen Kernpunkten›, um die unübersichtliche Lage zu verstehen.
Die Welt erlebt heute eine paradoxe Situation: Ausgerechnet die USA, ihrem Anspruch nach der demokratischste Staatenverbund der Welt, vielgliedrig, nicht einheitsstaatlich, diese ‹United States of America› treten unter ihrem Präsidenten Donald Trump als einheitliche Supernation auf, die eine Politik der Destabilisierung der Völkerordnung betreibt, welche andere Nationen bedrängt und unterdrückt. Dem steht ein Vielvölker-Russland gegenüber, das nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion von den Knien wieder auf die Beine kommen will, daher im Interesse seines eigenen Schutzes, seiner eigenen Restauration, eine Politik der Stabilisierung als Nationalstaat entwickelt, die als Krisenmanagement durch Wladimir Putin auch in die Welt hineingetragen wird.
Hinter Russland sammeln sich diejenigen kleineren und größeren Nationen, die ebenfalls diesen Schutz suchen. So ist eine Konfrontation zwischen den schwächelnden, aber aggressiven USA und diesem konservativen Krisenmanager Russland entstanden, die die Welt in Dauerspannung und Unruhe hält. Im Hintergrund China. Das alles geschieht auf der Basis eines wieder zunehmenden Nationalismus bei gleichzeitiger globalisierter Ökonomie, die im Sturmschritt über die Nationen hinwegschreitet, sie wegschiebt, übergeht oder sie zum Diener des internationalen Kapitals macht. Kommt hinzu, dass die Nationalstaaten, die sich an den Randzonen der ehemaligen Kolonien befinden, von den ehemaligen Kolonialmächten noch heute ökonomisch unter dem Daumen gehalten werden, sodass sie keine gesunde Wirtschaft entwickeln können. Zusammen mit den nicht Beschäftigten in den ‹entwickelten Ländern› werden so Millionen Menschen als ‹Überflüssige› an den Rand der globalen Gesellschaft gedrückt. Das Ganze ist eine paradoxe, kaum in Begriffe zu fassende Situation. Man kann das, was da entstanden ist, ein Patt nennen, eine globale Stagnation. Da geht nichts vor und nichts zurück. Da ist keine Idee, kein Geist, der in die Zukunft einer förderlichen sozialen Entwicklung weisen könnte. Nichts dergleichen.
Staat neu denken
Unter diesen Bedingungen ist die Entflechtung des einheitlichen Nationalstaats im Sinne der Idee der Dreigliederung, wie Rudolf Steiner sie nach dem Ersten Weltkrieg vortrug, mehr als aktuell. Aber wie? Eine einfache Kopie verbietet sich. Ein Blick zurück mag bei der Übersetzung auf heute jedoch helfen: «Die Aufgaben, welche das soziale Leben der Gegenwart stellt», erklärte Steiner seinerzeit im ersten Satz seiner Vorrede zu den ‹Kernpunkten›, «muss derjenige verkennen, der an sie mit dem Gedanken an irgendeine Utopie herantritt.» Nicht ein Programm oder Schema stellte er deshalb hin, sondern eine Analyse der drängenden «Lebensnotwendigkeiten». Thema des ersten Kapitels der ‹Kernpunkte› war deshalb für ihn – das mögen diejenigen heute kaum glauben, die ihn als Esoteriker eingeordnet haben – das Proletariat. Er beschreibt das Proletariat als Erneuerungsbewegung der Menschheit. An anderer Stelle erklärt er, mit nahezu gleichlautenden Formulierungen wie Karl Marx, die Menschheit werde durch das Proletariat gerettet. Es gibt nur ein Aber in Steiners Sicht: Die Entwicklung des Proletariats könne nicht geschehen unter der Herrschaft einer Wissenschaft, die diesem Proletariat nur eine Identität als Klasse gebe. Das laufe auf eine historische Irreführung hinaus, weil gerade der Proletarier, durch seine Unterordnung unter das Kapital und die Maschine seiner Menschenwürde beraubt, eine geistige Orientierung brauche, durch die er sich nicht nur als Mitglied einer ökonomisch definierten Klasse, sondern als Mensch erkennen könne, durch die er auch erkennen könne, dass er Freiheit nicht erringen könne, indem er um die Eroberung des Staatsapparates kämpfe, sondern um dessen grundlegende Transformation im Sinne der Dreigliederung des sozialen Organismus. Der Proletarier müsse zu dem Verständnis kommen, dass die Eroberung des Staatsapparates ohne dessen Transformation das Elend des Proletariats nur verlängern werde. Die Geschichte hat gezeigt, dass Steiner mit dieser Sicht bedauerlicherweise recht behalten sollte.
Was sagt uns das heute? Es sagt uns, wenn wir bereit sind, zu hören, dass die Menschheit mit dem Scheitern der sozialistischen Revolution eine historische Enttäuschung erlebt hat, die verarbeitet werden muss. Der erste wichtige Punkt, über den dabei gesprochen werden muss, wenn die soziale Dreigliederung ins Leben kommen soll, ist die Rolle des Staates, wie er die Hoffnung untergräbt, dass sich die Menschenwürde verwirklicht.
Teilen, nicht herrschen
Ein weiteres Kapitel der ‹Kernpunkte› befasst sich mit dem Kapital. Dort beschreibt Steiner, wie die Befreiung des Kapitals von staatlichen Eingriffen bei gleichzeitiger Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft aussehen könnte: «Nicht die ursprüngliche freie Verfügung [über Kapital, Ehlers] führt zu sozialen Schäden, sondern lediglich das Fortbestehen des Rechtes auf diese Verfügung, wenn die Bedingungen aufgehört haben, welche in zweckmäßiger Art individuelle menschliche Fähigkeiten mit dieser Verfügung zusammenbinden.» Und weiter: «Die Möglichkeit, frei über die Kapitalgrundlage aus den individuellen Fähigkeiten heraus zu verfügen, muss bestehen, das damit verbundene Eigentumsrecht muss in dem Augenblicke verändert werden können, in dem es umschlägt in ein Mittel zur ungerechtfertigten Machtentfaltung … Nicht ein Mittel ist zu finden, wie das Eigentum an der Kapitalgrundlage ausgetilgt werden kann, sondern ein solches, wie dieses Eigentum so verwaltet werden kann, dass es in der besten Weise der Gesamtheit diene.»
Das bedeutet: Jeder Mensch müsse die Freiheit haben, etwas zu unternehmen, aber er dürfe dadurch nicht zum Herrscher über andere werden. Da sei ein Schnitt anzusetzen. Noch deutlicher wird dieser Lösungsansatz in Steiners Haltung zur Lohnarbeit. Es sei, schreibt er, «die Ablösung des Entlohnungsverhältnisses durch das vertragsgemäße Teilungsverhältnis in Bezug auf das von Arbeitsleiter und Arbeiter gemeinsam Geleistete in Verbindung mit der gesamten Einrichtung des sozialen Organismus ins Auge zu nehmen.» Diese Ideen in ihrer Radikalität zu erneuern und in die Wirklichkeit zu bringen, steht heute auf der Tagesordnung.
Grafik: Scanning white, Nina Gautier