Kürzlich gab es seltsam klingende Beschreibungen der neu erreichten Ziele eines unserer Raumschiffe. Was bedeuten sie? Was ist real, was eine Metapher? ‹Surfen auf der Bugwelle der Sonne›.
Immer noch lernen Kinder heute mehr oder weniger bewusst, dass die wesentlichen Bewegungen am Himmel durch ein einfaches Gesetz erklärt werden können: Newtons sogenanntes Universalgesetz, das die Anziehung der Himmelskörper zueinander beschreibt. Moderne Physik hingegen fügt nicht nur die chaotisierende Kraft der Wärme, sondern die noch kaum verstandene Quintessenz (dunkle Energie) hinzu. Des Weiteren berechnen wir heute Bewegungen im großen Maßstab nach den weitaus komplizierteren Gesetzen des Plasmas (1): luftartige Strömungen, die als ‹Winde› bezeichnet werden. Denn während es durch unsere Heimatgalaxie der Milchstraße wandert, schickt unsere Sonne (und andere Sterne) zusätzlich zu Licht und Wärme einen konstanten Fluss dieses Plasmas aus. Alle Planeten unseres Sonnensystems leben und bewegen sich also innerhalb dieser sogenannten Heliosphäre. Wenn die Sonne stillstehen würde, würde dieser Sonnenwind sich in allen Richtungen kugelförmig gleich ausbreiten. Aufgrund ihrer Bewegung um unsere Galaxie wird die Heliosphäre jedoch dort abgeflacht, wo sie von dem entgegenkommenden galaktischen Plasma aufgestaut wird. Die Grenze zwischen der Heliosphäre (mit ihrem Sonnenwind) und dem galaktischen interstellaren Wind wird als Heliopause bezeichnet. Eine letzte zu erwähnende Struktur ist der ‹Terminationsstoß›, eine kugelförmige Grenze, die die Sonne umgibt. Diese Stoßwelle ähnelt derjenigen, die erzeugt wird, wenn ein schnell fliegendes Flugzeug einen Überschallknall verursacht, der die Grenze zwischen Über- und Unterschallgeschwindigkeit markiert.
Modell und Realität
Terminationsstoß, Heliosphäre und Bugwelle: Diese strömende Erzählung stellt das Bild dar, das wir auf Grundlage von Experimenten auf der Erde sowie Interpretationen astronomischer Daten mühevoll gezeichnet haben. Die große Frage ist, ob die reale Situation in irgendeiner Beziehung zum Modell steht. Zwei Raumsonden namens Voyager (Reisende) stiegen 1977 auf. Voyager 1 flog an Jupiter und Saturn vorbei. Voyager 2 tat dasselbe, zoomte dann aber auch an Uranus und Neptun vorbei. Im August 1989 traten die beiden Raumschiffe in eine neue Phase, die Voyager Interstellar Mission. Sie soll bis maximal 2027 fortdauern.
Die ganze Heliosphäre atmet und pulsiert. Die Wissenschaftler waren jedoch überrascht, wie ähnlich Messungen beider Schiffe waren (Voyager 1 beim Sonnenmaximum des elfjährigen Sonnenzyklus, Voyager 2 beim Minimum). Da die Schiffe in verschiedene Richtungen geschickt wurden, deutet die Ähnlichkeit auch auf eine höhere Symmetrie hin als erwartet.
Es wurde lange vermutet, dass sich – wie bei anderen Sternen – eine weitere Stoßfront bildet, die sogenannte Bugstoßwelle (siehe Färbung im Bild), wo der interstellare Wind von Über- auf Unterschallgeschwindigkeit abgebremst wird. Nach neueren Erkenntnissen gibt es diese nicht, sondern nur eine verdichtete Bugwelle. Auch die Plasmatemperatur des interstellaren Raumes ist kälter als die der Heliosphäre, jedoch heißer als vorhergesagt. Schließlich beobachteten beide Raumfahrzeuge ein ‹Leck›: Voyager 1 entdeckte interstellare Teilchen, als es sich der Heliopause näherte, während Voyager 2 einige Sonnenteilchen entdeckte, nachdem es die Heliosphäre verlassen hatte.
Wo geht die Reise hin?
Obwohl ein Fuß vielleicht noch im Erdenraum steht, sind wir in den Sternenraum eingetreten, in Richtung anderer Sterne. (2) Die Metapher der Voyagers, die durch die Bugwelle der Sonne surfen, ist also überhaupt keine Metapher, sondern eine wissenschaftliche Beschreibung unseres gegenwärtigen Raumverständnisses. Sie zeigt, wie weit sich unsere gesamte Weltauffassung des Alls in der letzten Generation verändert hat. Van Goghs fließende ‹Sternennacht› hat sich als wissenschaftlich genauere Darstellung des Kosmos erwiesen denn Newtons einsamer Himmel. Und die Zukunft? Das High-Tech-Wort ‹Raumschiff› war gut gewählt, denn künftig greifen solche Schiffe auf das Segelschiffprinzip zurück, bei dem Sonnenwind bzw. interstellarer Wind vom Sonnensegel aufgestaut wird, um so als Antrieb zu dienen.
(1) Ein verdünntes ionisiertes Gas. In ihrer einfachsten Form folgen Gase physikalischen Gesetzen, bei denen die Individualität des Gases (z. B. Wasserstoff, Stickstoff) oft vernachlässigt werden kann. Plasmen hingegen reagieren empfindlicher auf Elektromagnetismus und sind daher weitaus individueller.
(2) Als äußerste Grenze unseres Sonnensystems gelten die vermuteten Geburtsstätten der Kometen: der flache Kuipergürtel und die kugelförmige Oortsche Wolke. Das Maß für planetare Astronomie 1 ae (astronomische Einheit) = Entfernung von der Erde zur Sonne = 150 Millionen Km. Neptun: 30 ae; Kuipergürtel: 30–50 ae; Terminationsstoß: 94 ae; Heliopause (Ende der Heliosphäre): 120 ae; Voyager: 125 ae (Geschwindigkeit: 3,2 ae/Jahr); Oortscher Wolkenabstand: 100 000 ae; Proxima Centauri (nächster – nicht angepeilter – Stern): 270 000 ae.
Titelbild: Sternennacht, Vincent van Gogh, 1889, Öl auf Leinwand, 73,7 × 92,1 cm, Museum of Modern Art, New York (USA)