Die Entstehung der Presse veränderte das Geistesleben der Menschheit grundlegend. Meinungen konnten sich schnell verbreiten, es konnten aber auch Polemiken geschürt werden. Dies hat sogar manchen den Kopf gekostet, zum Beispiel in der Französischen Revolution. Mit dem Internet hat sich dieses Phänomen noch massiv zugespitzt und jeder kann weltweit Meinungen, wenn nicht gar Fake News, verbreiten. Diese digitale Entwicklung des Publikationswesens versetzt uns in ganz neue Umstände, mit denen wir leben lernen müssen.
Mit meinem unbefangenen Weltinteresse gerate ich gerade an eine deutliche Grenze: Wenn ich Nachrichten höre oder lese, steigt in mir oft die Wut auf – angesichts der vielen Trumps dieser Welt. Ob sie nun Scheuer oder Erdoğan heißen, ob es sich um den Bayer-Monsanto-Chef, die Bosse der Autoindustrie oder die Hater von Greta Thunberg handelt – ich muss aufpassen, dass diese Liste nicht seitenfüllend wird –, allen möchte ich mal deutlich meine Meinung sagen! Aber würde ich diese Menschen auf der Straßeoder als Nachbarn noch grüßen?
Apropos grüßen: Auch in anthroposophischen Kreisen wird das Vorbeisehen und Nichtmehrgrüßen verschiedentlich als Unmutsäußerung gepflegt. Und zugleich schaut man sich mit Begeisterung das Morgenstern-Eurythmieprogramm ‹Meine Liebe ist groß wie die weite Welt› an …
Was bewirken solche Unmutsreaktionen, die im Netz immer häufiger zu heftigen Shitstorms anwachsen und in Sekundenschnelle rund um den Globus gehen? Im Zweifelsfalle prallt Masse gegen (vermeintliche) Macht.
Vielleicht sollte ich besser fragen: Was verhindern solche Reaktionen? Welche Barrieren baue ich in mir selbst auf, wenn ich andere Menschen in ihren Haltungen bekämpfe, wilde Vermutungen aufstelle oder überall nach Fehlverhalten fahnde? Nehme ich den anderen wirklich ernst? Bin ich selbst überhaupt zum Gespräch bereit? Wer ist der größere Egoist?
Empörung und Unmut setzen die eigene Deutungshoheit voraus und erzeugen Feindbilder. Und das Propagieren einzig richtiger Haltungen, das Verteidigen ‹reiner Lehren› verlangt Konformität und führt schnell zum Vorwurf von zu viel Individualität.
Natürlich muss ich, kann ich, darf ich nicht alles widerspruchslos hinnehmen. Doch sind Empörung und Protest dasselbe? Muss ich mich nicht im Innersten prüfen, ob ich nicht gerade genau das mache, was ich dem anderen vorwerfe? Arbeite ich nicht mit den gleichen Mitteln? Ich will, dass der andere mich und meine Auffassung akzeptiert und berücksichtigt. Doch akzeptiere und berücksichtige ich die seine? Verstehe ich sein Sprechen und Handeln – oder unterstelle ich ihm etwas? Was ist mein Maßstab? Die eigene Erkenntnis? Political Correctness? Oder – unter Anthroposophen: Rudolf Steiner hat gesagt? Rudolf Steiners ‹eigentlicher Wille› (den natürlich nur ich verstehe)? Würde es dieser – inzwischen in nachtodlichen Sphären verwandelt – unter heutigen Bedingungen wirklich immer noch so wollen?
Verliere ich bei solchen Reaktionen nicht den Menschen, gegen den ich mich wende, als solchen aus dem Blick? Als ‹Gutmensch› psychologisiere ich vielleicht oder empfinde herablassendes Mitleid. Dann begegne ich ihm aber nicht mehr auf Augenhöhe. Beruht meine Empörung über andere, meine selbstverständliche Verurteilung anderer nicht oft auf Selbstbehauptung und Arroganz?
Triebkraft für Empörung – wogegen auch immer – ist meist das Gefühl eigener Ohnmacht, die ich nicht akzeptieren mag und daher gerne überspiele. Doch kann ich ohne das Aushalten von Ohnmacht überhaupt etwas sinnvoll in der Welt verändern? Ist es nicht gerade der Durchgang durch die Ohnmacht, des Verlustes aller Macht, der mich öffnet für die Welt, für das, was mir aus der Welt entgegenkommt? Für mich selbst, mein eigenes Schicksal?
Es geht doch nicht um das, was ‹ich› aus meinem Personsein heraus will. Da muss ich ja mit dem anderen zusammenstoßen, der auf gleiche Weise etwas will. Das kann nicht gut gehen. Natürlich, ‹mir› geht es ja nur um die Sache! Wirklich? Wenn es tatsächlich um ‹die Sache› geht, so müsste ich mich doch an ihr mit dem anderen treffen können. Weiß ich aber überhaupt, um welche ‹Sache› es dem anderen geht?
Weltinteresse heißt ja nicht, zu allem eine Meinung zu haben oder alles in ein System einzuordnen, sondern mich dem anderen – den Menschen und Phänomenen – bedingungslos zuzuwenden. Ansonsten verbräme ich doch nur mein Eigeninteresse.
Um zu ‹verstehen›, was in der Welt passiert, muss ich versuchen, ein wenig ‹hinter› die Welt zu schauen – ohne zu spekulieren oder zu kolportieren. Der Bekämpfung von Verschwörungstheorien liegt oft eine eigene Verschwörungstheorie zugrunde, für die ich nur blind bin …
Der Friday-for-future-Generation, die sich für konsequentes Handeln zum Klimaschutz einsetzt, geht es vor allem um Haltung und Wahrhaftigkeit, die sie nicht nur von den anderen einfordert, sondern auch selbst pflegt. Greta Thunberg sagt im Interview mit Anne Will: Entweder handele ich nachhaltig – oder nicht; ein Dazwischen gibt es nicht. Doch sie betont: Es ist ihr Entschluss. Sie will nicht missionieren, sondern auf die Konsequenzen aufmerksam machen. Sie und die anderen Jugendlichen, die sich für eine lebenswerte Zukunft einsetzen, wehren sich insbesondere gegen Partialinteressen, die mit ‹gesellschaftlicher Verantwortung› kaschiert werden. Und sie wehren sich auch entschieden gegen den Vorwurf der Fremdsteuerung. Dieser setzt ja ein eigenes Manipulationsinteresse voraus.
Nicht nur in diesem Zusammenhang ist das Internet zum Medium eines astralen Gewoges geworden, das die Welt vielleicht ähnlich verschmutzt wie die Abgase. Ausdruck innerer Stärke ist dieses Gewoge sicherlich nicht, und schon gar nicht von Weltinteresse. Doch ist es nicht gerade dieses, das die Substanz der Welt von Morgen bildet? «Das, was ich bisher in mir gesucht habe, die Stärke, die werde ich ausgegossen finden über die ganze Welt, in ihr werde ich leben» (Rudolf Steiner, 20.6.1916, GA 169).
Bild: Sandro Botticelli, Die Verleumdung des Apelles, 1494–1495, Tempera auf Holz, 62 × 91 cm, Uffizien