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Zwischen allen Fronten

Deutschland kommt zum dritten Mal in seiner neueren Geschichte in die Lage, als Mittelmacht zwischen allen Fronten zu stehen, im Ost-West-Konflikt, in den multipolaren Kräfteverschiebungen wie in der Europäischen Union gleichermaßen. Es stellt sich die Frage, ob Deutschland heute andere Wege finden kann als in der Vergangenheit, mit dieser exponierten Lage umzugehen.


Deutschland – eine Frage

Zuerst ist allerdings die Frage zu klären, was gemeint ist, wenn heute von Deutschland gesprochen wird. Man wird der ‹deutschen Frage› nicht gerecht, wenn man nur die gegenwärtige Bundesrepublik Deutschland in den Blick nimmt. Zu betrachten sind die kulturellen und staatlichen Formen, in denen sich deutsche Geschichte durch den geopolitischen Raum Europas zieht – vom Römischen Reich deutscher Nation über die deutschen Lande Goethes, Schillers, Fichtes, in denen ‹deutsch› kein nationalstaatlicher, sondern ein kultureller Begriff war, zum deutsch-slawischen Mitteleuropa, das Rudolf Steiner im Sinn hatte, wenn er von Deutschland sprach. Vom Deutschen Reich, das aus Bismarcks Blut-und-Eisen-Politik hervorging, über die kurze demokratische Blüte der Weimarer Republik und dem Absturz ins ‹Dritte Reich› bis zu den in Ost- und Westdeutschland geteilten Rumpfstaaten unter alliierter Verwaltung, die der Zweite Weltkrieg hinterließ.

Zu sprechen wäre auch noch davon, dass aus der Zusammenführung von Ost- und Westdeutschland, ddr und brd, nicht etwa ein ‹wiedervereinigtes› Gesamtdeutschland in den Grenzen von der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg oder früher hervorging, sondern es ging um die Zusammenführung der beiden deutschen Rumpfstaaten unter der Verfassung der Nachkriegs-brd. Dieses heutige Deutschland ist bis zur endgültigen ‹Wiedervereinigung› eine juristisch nicht abgeschlossene völkerrechtliche Form, woraus sich innenpolitische Verwerfungen mit ‹Ewiggestrigen› um die gültige Verfassung des heutigen Deutschlands und außenpolitische Abhängigkeiten von den ehemaligen Alliierten, insondere von den USA, ergeben.

All dessen ungeachtet ist dieses Deutschland heute als souveräner Staat mit wachsender Dominanz fest eingebunden in die Europäische Union und das Atlantische Bündnis, einschließlich der NATO als deren militärischem Arm.

Eigene Perspektiven?

Worin also könnte eine Entwicklung Deutschlands bestehen, die der Botschaft des ‹America first› eine eigene Zukunftsperspektive entgegenzusetzen imstande wäre, die nicht auf den nationalistischen Kurs führt, der gegenwärtig von den USA vorgegeben wird?

Eine Antwort auf diese Frage kann selbstverständlich kein festes Programm sein. Schon gar kein Programm der neuen Stärke in der Art, wie die führenden Politiker Deutschlands es angesichts des Rückzugs der USA aus deren Rolle als ‹Weltpolizist› zurzeit fordern und wie es die deutsche Kanzlerin formuliert, wenn sie sagt, dass «wir unsere Zukunft ganz sicher selbst in die eigene Hand nehmen müssen».

Die Antwort kann sich auch nicht auf die formelhafte Beschwörung der deutschen und der europäischen Werte sowie der Allgemeinen Menschenrechte beschränken, wiewohl die bloße Einhaltung der Grundwerte der deutschen Verfassung, welche die Würde des Menschen nach den Schrecken des Zweiten Weltkriegs und nach dem Terror des Faschismus 1949 zu ihrem Leitprinzip erklärte, schon als wichtige Barriere gegen Rückfälle in nationalistische Verirrungen verstanden werden könnte. Enthält dieses Grundgesetz, zwar noch diktiert vom amerikanischen Freiheitsverständnis und noch nationalstaatlich gebunden, über den Schutz der Menschenwürde hinaus doch auch noch Prinzipien wie die Freiheit der Lehre und Forschung, die Sozialpflichtigkeit des Eigentums und anderes mehr, durch die der Geist einer Dreigliederung des sozialen Organismus unverkennbar hindurchschimmert. Rudolf Steiner hätte diese Verfassung als Schritt in eine lebensförderliche Richtung ganz sicher begrüßt.

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In der Erkenntnis, dass die Herausbildung der Würde des einzelnen Menschen Sinn menschlicher Entwicklung ist, können sich diese beiden Geschichtsströme nach den bitteren Erfahrungen der von ihnen betroffenen Völker heute begegnen.

Zweifach geimpft

Die eigentlichen, wirklich zukunftsweisenden Impulse wird dieses Deutschland jedoch nur aus der aktiven, bewussten Erinnerung an die Grundtugenden der eigenen Geschichte gewinnen können, die aus dem Geist der Mitte hervorgegangen sind, der sich durch die gesamte Geschichte des Deutschseins zieht.

Negativ gesprochen wäre das ein unentschiedenes Hin-und-Her-Schaukeln zwischen westlichen und östlichen Allianzen, zwischen westlicher und östlicher Orientierung. Positiv gesprochen folgt daraus eine Offenheit Deutschlands für den Osten, wesentlich gegenüber Russland, wie für den Westen, insbesondere gegenüber den USA. Deutschland liegt auf dem Feld, auf dem sich östliche und westliche Einflusszonen durchmischen. Das führt zu einer gewissen Unentschiedenheit der deutschen Politik. Aber das muss kein Fehler und kein Nachteil sein, sondern ist eine Chance, wenn diese Mittellage als Aufgabe verstanden wird, die Polaritäten in Verbindung zu bringen, als Brücke zu funktionieren, Regeln zu entwickeln und zu halten usw. Die Liste der ‹deutschen Tugenden› soll hier nicht weiter verfolgt werden.

Wenn eine Bevölkerungsgruppe, eine Gesellschaft, eine Kultur heute prädestiniert, aufgefordert, schroff gesagt, geradezu dazu verurteilt ist, aus den Erfahrungen ihrer Vergangenheit Schlüsse zu ziehen, die in Impulse für eine lebensförderliche Entwicklung der Menschheit zu verwandeln sind, dann ist es die deutsche. Die Deutschen mussten im Laufe von nur einem einzigen Jahrhundert erleben, wie die freiheitlich-föderale Ordnung, von der Rudolf Steiner noch sprechen konnte, und deutscher Idealismus in ihr Gegenteil verkehrt wurden. Gegen Wiederholungen des nationalistischen Übels wurde Deutschland so gleich zweifach geimpft.

Hin zu ethischem Individualismus?

Vergleichbar ist dem in neuerer Zeit nur noch die Erfahrung, welche die russische Bevölkerung mit dem Stalinismus machen musste. Wie der deutsche Idealismus durch den Faschismus, so wurde die russische Glaubenskraft durch den Stalinismus missbraucht.

In der Erkenntnis, dass die Herausbildung der Würde des einzelnen Menschen Sinn menschlicher Entwicklung ist, können sich diese beiden Geschichtsströme nach den bitteren Erfahrungen der von ihnen betroffenen Völker heute begegnen. Das schließt die frühen amerikanischen Freiheitsimpulse, sofern sie jetzt nicht ihrerseits missbraucht werden, mit ein. Für die, die es verstehen, weist diese Entwicklung in die Zukunft des von Rudolf Steiner seinerzeit beschriebenen ethischen Individualismus. Ob die Politiker dies begreifen, steht auf einem anderen Blatt.

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