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Die Freiheit, sich selbst zu folgen

Was motiviert einen Autor, ein erfolgloses, kaum gelesenes Buch nach einem Vierteljahrhundert noch einmal zu veröffentlichen? Warum dieser Kraft- und Zeitaufwand für eine Schrift, die die Zeitgenossen nicht zu interessieren schien? Eine Anmerkung zur Neuauflage der ‹Philosophie der Freiheit› vor 100 Jahren.


«Nicht ein künstliches Gedankengespinst» rufe die Freiheitsfrage hervor, sie trete vielmehr «ganz naturgemäß in einer bestimmten Verfassung der Seele vor diese hin» (1) schreibt Rudolf Steiner in seiner im April 1918 geschriebenen ‹Vorrede zur Neuausgabe›. War diese Seelenverfassung jetzt, ein halbes Jahr vor Kriegsende, eingetreten? War angesichts der ungeheuren Verluste und des erlittenen Leids der ‹möglichst große Frageernst› entstanden? Das neue Vorwort thematisiert gleich zu Beginn zwei ‹Wurzelfragen›, die dem ganzen Buch zugrunde liegen. Die erste Frage bezieht sich auf ein Thema, das angesichts schier grenzenloser Manipulationsmöglichkeiten und damit einhergehender Falschmeldungen gerade heute hochaktuell erscheint: Wie kann durch eigenes Hinschauen eine Sicherheit in der Selbst- und Welterkenntnis gewonnen werden? Ein paar Absätze weiter wird erneut der Sicherheitsaspekt angesprochen. So will der Autor weder «eine Schilderung geistiger Forschungsergebnisse» noch «spezielle naturwissenschaftliche Ergebnisse» liefern, sondern zeigen, wie «Sicherheit für solche Erkenntnisse» entstehen kann.

Die zweite ‹Wurzelfrage› fragt nach der Freiheit des menschlichen Willens: «Darf sich der Mensch als wollendes Wesen die Freiheit zuschreiben oder ist diese Freiheit eine bloße Illusion, die in ihm entsteht, weil er die Fäden der Notwendigkeit nicht durchschaut, an denen sein Wollen ebenso hängt wie ein Naturgeschehen?»

Das Buch liefert auf diese beiden Fragen keine «theoretische», «fertige», «abgeschlossene Antwort, die man, einmal erworben, bloß als vom Gedächtnis bewahrte Überzeugung mit sich trägt». Stattdessen verweise das Buch auf ein «Erlebnisgebiet der Seele», auf dem sich diese Fragen «entwickeln» und bei Bedarf «lebendig» beantworten.

Das Buch knüpft an die ursprünglichsten, nicht hintergehbaren Weltzugänge, an das ‹eigene› Beobachten und Denken des Menschen an. Anstelle geisteswissenschaftlicher Forschungsergebnisse bietet der Text die Möglichkeit, sich in einen Modus des Fragens und Suchens zu versetzen, der zu eigenen Erkenntnissen führen kann. Es wird gezeigt, wie der Mensch durch die bewusste Zusammenführung seiner Sinneseindrücke (Wahrnehmungen) und Denkresultate (Begriffe) zu Erkenntnissen kommen kann, die sich selbst ‹stützen›, statt auf die Autorität des Autors. Die Lesenden werden sich dann nicht (mehr) nach den Schilderungen und Fremderfahrungen eines Meisters (Gurus) sehnen, sondern sich ermutigt fühlen, den «nächsten Erfahrungen» und «unmittelbaren Erlebnissen» zu vertrauen «und von da aus zur Erkenntnis des ganzen Universums aufzusteigen». (2)

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Es scheint mir, dass Sie dasjenige, was der Geist des Menschen jahrtausendelang in geheimnisvollen, fantastischen, abstrusen Bildern und Zeremonien auszudrücken strebte, zum ersten Mal in das Gebiet der Vernunft erhoben und ihm eine klare, begriffliche Formulierung verliehen haben.
— Rosa Mayreder

Warum sich Steiner mit dem Misserfolg seines philosophischen Hauptwerks nicht einfach abfand, wird klar, wenn man sich zu Bewusstsein bringt, was hier versucht wird: eine Wissenschaftsform zu begründen, die sich nicht in spezialwissenschaftlichen Erkenntnissen verliert, sondern den Menschen «zum vollen Leben» zurückführt. Die Spezialwissenschaften sieht Steiner in seinem Buch als «Vorstufen der hier angestrebten Wissenschaft». (3) Diese will durch das bewusste Anschauen bzw. Beobachten transparent machen, wie Erkenntnisse zustande kommen. Ein Schritt, der von einem bloß wissensgeleiteten Vorgehen zu einer Ebene führt, die auch das Entstehen von Erkenntnissen selbst beobachten und dadurch zu einer neuen Sicherheit führen kann.

Hatte die ‹geschätzteste gnädige Frau› Rosa Mayreder, der Steiner sein Buch mit den Zeilen schickte: «Ich gestehe Ihnen ganz offen, dass ich an vielen Stellen meines Buches mit dem Gedanken schrieb: Was werden Sie dazu sagen?» (4), dies im Blick? Sie schrieb ihm in Bezug auf sein Werk zurück: «… es scheint mir, dass Sie dasjenige, was der Geist des Menschen jahrtausendelang in geheimnisvollen, fantastischen, abstrusen Bildern und Zeremonien auszudrücken strebte, zum ersten Mal in das Gebiet der Vernunft erhoben und ihm eine klare, begriffliche Formulierung verliehen haben.» (5) Auch sah sie sein «philosophisches System als das endliche Gelingen eines oftmals und in den mannigfaltigsten Formen angestellten Versuches» (6) an.

Die ‹Philosophie der Freiheit› schildert in nüchternen, auf Wahrnehmung basierenden Beschreibungen Bewusstseinsvorgänge, die – wenn man sie durch eigenes Beobachten nachvollziehen lernt – neue Freiheitsräume eröffnen können. Mir selbst ging es so, dass ich beim Lesen eines Abschnitts plötzlich so in den Inhalt eintauchte, dass die Buchstaben zu verblassen schienen und einem Erlebnis Platz machten, das sich wohl am ehesten mit dem Satz umschreiben lässt: «Seine in sich geschlossene Totalexistenz im Universum kann der Mensch nur finden durch intuitives Denkerlebnis.» (7)

Zusammengefasst liefert uns Rudolf Steiner mit seinem Buch eine Methode, die «an Klarheit und Schärfe des Gedankens in der ganzen philosophischen Literatur nicht seinesgleichen hat» (8) und uns vom Nachbeten fertiger Inhalte zu einem schöpferischen Hervorbringen neuer Erkenntnisse befähigt. Steiner befreit dadurch den Leser nicht zuletzt auch von seiner eigenen Autorität, indem er darauf verweist, wie der Mensch vom passiven Konsumenten fertiger Wissensinhalte zu einem Gestalter eigener Bewusstseinsvorgänge werden kann. Wem es gelingt, sich über die Bedingungen des Zustandekommens eigener Einsichten mittels seiner Beobachtung Rechenschaft abzulegen, der wird nicht nur zu sicheren Erkenntnissen kommen. Er versetzt sich dadurch auch in die Lage, sich selbst immer besser folgen zu können und unabhängiger von vorgegebenen Mustern, von Fremdbestimmung und äußeren wie inneren Zwängen zu werden.


Bilder Rosa Mayreder um 1895. Rudolf Steiner um 1891/92, Radierung Otto Fröhlich.

(1) ‹Vorrede zur Neuausgabe 1918›. Alle nachfolgenden Zitate stammen, wenn nicht anders angegeben, aus dieser Vorrede.

(2) Aus dem ehemals ersten Kapitel der ‹Philosophie der Freiheit› mit dem Titel: ‹Die Ziele alles Wissens›.

(3) Ebd.

(4) Brief Nr. 369. An Rosa Mayreder, Weimar, 14. Dezember 1893.

(5) Brief Nr. 379. Rosa Mayreder an Rudolf Steiner, Wien, 5. April 1894.

(6) Ebd.

(7) Die ‹Philosophie der Freiheit›, Kapitel ‹Die Konsequenzen des Monismus›.

(8) Brief Nr. 379. Rosa Mayreder an Rudolf Steiner, Wien, 5. April 1894.

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