Anthroposophie heißt vertrauen

Last updated:

Die Wirkungen der Waldorfpädagogik werden für Erwachsene anders wahrnehmbar als für Kinder. Und doch sind es die gleichen. Hülle, Schutz und Angemessenheit verweisen auf weiblich-mütterliche Qualitäten.


In den 1980er-Jahren aufgewachsen, wurden mein Bruder und ich stundenlang zum Spielen nach draußen geschickt. Wir kochten Schlammeintopf in orangefarbenen Plastikeimern und kletterten auf den Ahornbaum in unserem Vorgarten. Die leuchtend grüne Raupe und die seltsam aussehende Puppe unter unserem Apfelbaum waren voller Geheimnisse, Leben und Wunder. Die Welt pulsierte, war lebendig und magisch und sprach durch ihre Geschöpfe zu uns. Unser Vater, ein syrischer Einwanderer, hatte einen großen Garten, in dem er die meisten unserer Lebensmittel selbst anbaute. Unsere Mutter, eine weiße amerikanische Grundschullehrerin, misstrauisch gegenüber dem Fernsehen, begrenzte unsere Bildschirmzeit. Sie spielte Lieder auf dem Klavier, während wir sangen und tanzten. Als ich neun Jahre alt war, ließen sich unsere Eltern scheiden. Aufgeteilt auf zwei Häuser mit zwei viel beschäftigten Eltern, wurde das frische Essen aus dem Nahen Osten durch zuckerhaltiges Müsli und Makkaroni mit Käse ersetzt. Das Spielen im Freien wurde durch die Horror- und Actionfilme ersetzt, die wir nun auf dem neuen Fernseher meines Vaters sehen konnten. Die Konsumkultur hatte uns entdeckt, und wir sind ihr erlegen.

Als mein erstes Kind zur Welt kam, war meine Mutter mit ihrer Willenskraft und ihrem Witz bereits verstorben. Obwohl viele meiner frühen Vorstellungen von Kindererziehung von ihr stammten, war sie nicht mehr da, um mich zu leiten. Die Realität des täglichen Lebens und die Mainstreamkultur wirkten auf unsere wachsende Familie ein. Und es war schwer, an meinem idealistischen Bild von Elternschaft festzuhalten. Ich stellte mir vor, wir würden singen, Geschichten erzählen, Bäume umarmen, selbst gebackene Kekse essen und eine zusammenhaltende Familie haben. Mit 33 und 37 Jahren hatten mein Mann und ich die Waldorfpädagogik noch nicht kennengelernt und keine Gemeinschaft, die uns unterstützen konnte. Das Schicksal intervenierte durch das Geflüster unserer Hebamme. Sie empfahl uns, eine kleine Schule im Nordosten Kanadas zu besuchen. Als wir dort ankamen, spürten wir eine Präsenz und Natürlichkeit und das volle Leben. Die hölzernen Spielgeräte, die frischen Lebensmittel und die pastellfarbenen Seidenstoffe fühlten sich an wie die Umarmung einer lange verlorenen Mutter, von der wir fast vergessen hatten, dass es sie gab. Wir hatten endlich Rudolf Steiner getroffen.

Die Waldorflehrer und -lehrerinnen führten uns in Steiners Verständnis der kindlichen Entwicklung ein. Wie ein aufmerksamer Elternteil sah Steiner Kinder, wie sie waren, und akzeptierte sie. Seine Hinweise halfen meiner mütterlichen Intuition, die leicht durch die Macht des Mainstreams in seiner Leistungsorientierung hätte unterdrückt werden können. Steiners Konzept der kindlichen Entwicklung unterbricht die materialistische Kultur mit ihrem übergriffigen Fokus auf Produktivität, Ruhm und Konsumverhalten. Es lässt die natürliche, vielschichtige Entfaltung des menschlichen Wesens gelten. So wie mich meine Kindheitserfahrungen gelehrt haben, dem Lauf der Natur zu vertrauen, von der Raupe über die Puppe zum Schmetterling, so lehrt uns Steiner, der natürlichen Entfaltung des Körpers, des Intellekts und des Gefühlslebens unserer Kinder zu vertrauen. Dieses Vertrauen in einen sich entfaltenden Prozess ist von Natur aus weiblich. Es ist ein Echo des Vertrauens, das eine Mutter, die göttliche Mutter, in ihren eigenen Schoß zu setzen gebeten wurde. Von Steiners Studium des Embryos bis zu seinen leidenschaftlichen Plädoyers für die Verbindung der Menschen mit der geistigen Welt fordert er uns auf, uns selbst, einander und den unlösbaren Verbindungen zwischen Menschen, Erde und Geist zu vertrauen.

Foto: Fredrik Solli Wandem

Das Weibliche in der Anthroposophie

Steiners als Mutter zu betrachten, weicht die potenziell einschränkenden intellektualisierten Strukturen innerhalb der Anthroposophie auf. Das Weibliche in der Anthroposophie zu akzeptieren bedeutet, das Natürliche, das Ganze, das materiell Unbekannte, aber instinktiv Erkennbare zu akzeptieren. Diese Akzeptanz ist auch eine Form des Widerstands, ähnlich dem Widerstand gegen die Zwänge der modernen Erziehung. Die zarten weiblichen Intuitionen wirken den Kräften entgegen, die in einer Kultur der Geschäftsabschlüsse und Eigeninteressen leben, welche uns von der stillen, kleinen Stimme in uns wegführen, die uns mit uns selbst und dem Geist verbindet.

Mit der Kursänderung und Einladung zum unstrukturierten Spiel, die wir von der Waldorfpädagogik gelernt haben, kamen die natürlichen Neigungen unserer Kinder zum Vorschein. Wir haben sie machen und wachsen lassen. Selbst jetzt als Teenager zeichnen und malen sie unaufgefordert, trotz ihrer Handys. Sie schreiben und machen Musik, anstatt nur Lieder zu hören. Steiner hat uns mit diesen Ideen inspiriert. Wir als Familie haben sie aufgegriffen. Steiner widerstand als Mutter den zerstörerischen Kräften des Materialismus, des Konsumismus und sogar des Patriarchats durch sein Vertrauen in die geistige Welt. Als wir diesen vertrauensvollen Widerstand in unser Haus einluden, brachte er etwas Unordentliches, Unproduktives, Schräges, Sprühendes und Sprudelndes hervor. Er schuf Leben. Wegen dieses Vertrauens in menschliche und spirituelle Prozesse und wegen Steiners mütterlicher Instinkte und seiner Mutterschaft sehe ich die Anthroposophie als einen lebendigen Garten, der sowohl in mir selbst als auch direkt vor meiner Tür zu finden ist. Wenn ich unserer ‹gemeinsamen Mutter› zuhöre, höre ich sein Drängen, in der Erde zu graben, Eimer mit schlammigem anthroposophischem Eintopf zu füllen und sie mit einem Stock umzurühren. Dann vertraue ich dem, was an die Oberfläche kommt, und gebe ihm Liebe, weil ich weiß, dass meine schlammigen Hände und mein lächelndes Gesicht den Mann erfreuen würden, der mich bemuttert hat.

Letzte Kommentare