Menschen können sich nur dann gut entwickeln, wenn sie – dies gilt von Beginn des Lebens an – gute Beziehungserfahrungen machen können. Nicht nur geistig-seelisch, auch biologisch ist erlebte Beziehung wichtig. Joachim Bauer zeigt, dass im Kern von Beziehung Spiegelungs- und Resonanzvorgänge stehen. Beziehungserfahrungen sind entscheidend, wenn es darum geht, einem Menschen medizinisch, therapeutisch oder pädagogisch zu helfen.
Begriffe wie ‹Ich› und ‹Selbst› haben eine lange Vorgeschichte in Philosophie und Psychologie. Gleichwohl haben Neurowissenschaftler einen eigenen Begriff des Selbst entwickelt. Neurobiologische Korrelate des Selbst sind neuronale Netzwerke, die innere Vorstellungen und Informationen über die eigene Person gespeichert haben. Der Ort, an dem diese Informationen abgespeichert sind, wurde erst vor wenigen Jahren entdeckt. Er sitzt in der unteren Etage des Stirnhirns, im sogenannten ‹ventromedialen präfrontalen Cortex›. Wann und wie entsteht dieses neurobiologische Korrelat des Selbst? Neugeborene, das lässt sich aus neurowissenschaftlicher Sicht sagen, haben noch kein Selbst. Anders als das übrige Gehirn, das schon im Mutterleib Informationen abspeichert, ist das Stirnhirn bei Geburt noch unreif und nicht funktionsfähig. Das Frontalhirn reift erst in den ersten Lebensmonaten. Wie kommen wir in Kontakt zum Säugling, der ohne ein Selbst ist? Und wie entsteht ein Selbst? Durch Spiegelung und Resonanz. Die neuronalen Resonanzsysteme sind bei der Geburt schon vorhanden und hinreichend funktionsfähig.
Die Bedeutung der Beziehung für die Entstehung des Selbst
Vater oder Mutter und andere Bezugspersonen treten mit dem Säugling in Kontakt, indem sie den Säugling auf eine bestimmte, liebevolle Art und Weise imitieren. Die Mutter und andere Bezugspersonen nehmen das, was der Säugling an Verhalten zeigt, auf, imitieren es und addieren Eigenes hinzu, das sogenannte ‹Markieren›. Umgekehrt können auch Säuglinge in Resonanz zu Erwachsenen gehen. Bereits wenige Tage alte Säuglinge sind in der Lage zu imitieren, obwohl sie noch kein Selbst haben. Dabei handelt es sich nicht um bewusste, sondern um unbewusste, aus dem Körper des Kindes kommende Reaktionen. Die Natur hat Imitation und Resonanz als die basale, früheste Art der Kommunikation entwickelt. Die Kontaktaufnahme am Beginn des Lebens geschieht also durch Spiegelung und Resonanz. Neugeborene zeigen ein spontanes Verhalten. Auf dieses Verhalten zeigen die Bezugspersonen Resonanz. Diese Resonanzen geben dem Kind Auskunft über sich selbst.
Die vom Säugling über die ersten Lebensmonate hinweg erfahrenen frühen Resonanzerfahrungen werden zunächst nur im Körpergedächtnis des Säuglings gespeichert. Sobald die Netzwerke im Stirnhirn reif genug sind, entwickelt sich ein erstes Selbstbild. Die frühen Erfahrungen enthalten zunächst einmal die Nachricht: Du existierst. Die Situation des Neugeborenen ordnet sich anhand einer bipolaren Ordnung zwischen Ich und Du, zwischen Selbst und Nichtselbst. Von Friedrich Nietzsche stammt der Satz: «Das Du ist älter als das Ich.» Martin Buber hat daraus den viel zitierten Satz geprägt: «Das Ich wird am Du zum Ich.» Doch nicht nur, dass ich existiere, sondern auch ob ich auf dieser Welt willkommen oder für andere Menschen nur ein Störfaktor bin, ist in den Resonanzen enthalten.
Die Summierung und Integration der über viele Monate immer wieder erlebten Resonanzen führt zur Entwicklung erster Vorstellungen von Selbst und Du. Der beste Entwicklungsort für das Selbst im ersten Lebensjahr ist bei den Eltern. Etwa ein Drittel jedes Säuglingsjahrgangs kommt in Deutschland bereits deutlich unter drei Jahren in Einrichtungen (Kitas). Deren Qualität – insbesondere der Personalschlüssel – entscheidet darüber, ob die hier versorgten Kleinkinder ein starkes Selbst entwickeln können. Entscheidend ist die dyadische Ansprache, die nur dann hinreichend möglich ist, wenn auf eine Betreuerin maximal drei Kinder unter drei Jahren kommen. Im ersten Lebensjahr sollte der Schlüssel eins zu zwei sein. Das erreichen derzeit nur sehr wenige Kindertagesstätten. Dabei entsteht nicht nur für die Kleinstkinder Schaden, weil sie kein stabiles Selbst entwickeln können. Auch die Betreuerinnen sind bei zu schwachem Personalschlüssel in einer schwierigen Situation. Sie erleiden ein erhöhtes Burn-out- und Depressionsrisiko.
Während es in den ersten 18 bis 24 Monaten um die Entwicklung eines stabilen Selbst geht, sollte sich ab dem dritten Lebensjahr die Selbststeuerung entwickeln, also die Fähigkeit, sozusagen wie von außen auf sich selbst zu schauen und sich zu steuern. Jetzt kann man das Kind langsam und liebevoll, Stück für Stück, lehren, zu warten, zu teilen und seine Impulse zu kontrollieren. Zunächst sind die Bezugspersonen Außenbeobachter für das Kind, das Kind verinnerlicht jedoch die Bezugspersonen und entwickelt dadurch einen inneren Selbstbeobachter. Ab dem dritten Lebensjahr kann der Betreuungsschlüssel in Einrichtungen auf etwa eins zu acht wachsen, jetzt können Kinder auch als Gruppe angesprochen werden.
Aus Psychologie wird Biologie
Beziehungserfahrungen, die das Kind macht, betreffen nicht nur seine Psyche, sondern schlagen auf seine Biologie durch. Den etwa 23 000 Genen, die wir haben, ist jeweils ein Genschalter, eine ‹regulatorische Sequenz› vorangestellt. Der Genschalter ist eine Art Landepiste, auf der Signalbotenstoffe, die aus der Sicht des Gens von außen kommen, landen können. Abhängig davon, welche Signalbotenstoffe am Gen andocken, wird das nachfolgende Gen stärker oder schwächer abgelesen. Diesen Vorgang nennt man Genregulation.
Wie Gene aktiviert und inaktiviert werden, hängt davon ab, was aus der Umwelt auf den Körper einwirkt: Nahrung, die Qualität der Luft, die Art, wie wir uns bewegen, die gesamte Umweltqualität und die Qualität unserer zwischenmenschlichen Beziehungen. Soziale, zwischenmenschliche Erfahrungen werden vom Gehirn nicht nur faktisch wahrgenommen, sondern auch bewertet. Seelische Erfahrungen, die wir mit anderen Menschen machen, lösen im Körper Signalketten aus, die dann bei der Aktivierung oder Inaktivierung von Genen enden. Gene steuern also nicht nur, sie werden auch gesteuert. Seelische Erfahrungen beeinflussen die Aktivität und die Ablesbarkeit von Genen in besonders starkem Maße. Die Ablesbarkeit von Genen kann sich dabei auch langfristig verändern. Zuwendungserfahrungen in den ersten Lebensmonaten schützen im späteren Leben vor einer überschießenden Reaktion der Stressgene.
Ein hohes Maß an elterlicher Unterstützung hat bei Kindern eine gute Gehirnentwicklung zur Folge. Fehlende elterliche Unterstützung hat eine signifikante Verminderung des Volumens des Hippocampus, einer für die intellektuelle Entwicklung des Kindes besonders wichtigen Gehirnregion, zur Folge. Die Qualität der Beziehungen, die das Kind zu seinen Bezugspersonen hat, wirkt sich daher auch auf den Lernerfolg aus. Tagtäglich vor dem Bildschirm zu sitzen oder zu liegen, ist für die Entwicklung des vorschulischen Gehirns eher ungünstig.
Anregungsreiche Umwelten, die das Kind fördern und fordern, erhöhen im Gehirnmantel die Synapsenzahl, sie verbessern die Entwicklung des Gehirnvolumens und die Intelligenz. Anregungsreiche Umwelten sind Welten, in denen das Kind spielen kann, die Natur entdeckt, musiziert oder singt. Gute emotionale und soziale Erfahrungen sind Voraussetzung für intellektuelle Entwicklung. Traumatisierung, Vernachlässigung, fehlende Anregungen, Armut, Gewalt sind belegte Schädigungsfaktoren für das Kind.
Die Balance von Empathie und Distanz
Nicht nur Kleinkinder, auch Erwachsene besitzen neuronale Resonanzsysteme. Diese Resonanzsysteme werden durch das System der Spiegelnervenzellen gebildet. Spiegelnervenzellen sind Nervenzellen, die nicht nur dann aktiv werden, wenn das Subjekt selbst handelt oder fühlt, sondern auch dann, wenn das Subjekt nur sieht bzw. beobachtet, wie jemand anderes handelt oder fühlt. Man kann nicht nicht in Resonanz gehen, ebenso wie man – siehe Watzlawick – auch nicht nicht kommunizieren kann.
Spiegelzellen lösen während des Beobachtens ein inneres Miterleben, ein intuitives Verstehen und Mitfühlen aus. Die Sprache kann starke Resonanz auslösen, zum Beispiel wenn ein Märchen oder ein Gedicht vorgelesen wird. Körpersprache vermag eine noch stärkere Resonanz auszulösen. Auch in der Psychotherapie kommt es zu einer wechselseitigen Resonanz zwischen dem Klienten und dem Therapeuten. Therapeuten und Ärztinnen können ihre Klienten bzw. Patientinnen anstecken, zum Beispiel mit Hoffnung. Eine positive Sicht der Dinge kann sich übertragen.
In Berufen wie z. B. im Lehrer- oder Erzieherberuf, im Sozialarbeiterberuf oder bei Pflegekräften, wo Helfer sehr viel Empathie einsetzen, aber nur wenig oder gar keine positiven Rückmeldungen bekommen, kann der ungebremste Einsatz von Empathie zu empathischem Stress führen. Empathie kann sich erschöpfen, die Betreffenden bluten emotional sozusagen aus. Das Ergebnis ist das sogenannte Burn-out-Syndrom. Kennzeichen des Burn-out-Syndroms ist der Umschlag von Empathie in Zynismus. Damit das nicht geschieht, müssen Menschen, die in ihrem Beruf mit anderen Menschen zu tun haben, darauf achten, eine Balance zwischen Empathie und Distanzierungsfähigkeit zu bewahren. Eine entscheidende Hilfestellung für den Erhalt der seelischen Gesundheit in Humandienstleistungsberufen sind Supervisionsgruppen.
Bücher von Joachim Bauer:
Prinzip Menschlichkeit. Warum wir von Natur aus kooperieren, München 2008.
Das Gedächtnis des Körpers. Wie Beziehungen und Lebensstile unsere Gene steuern, Frankfurt 2010.
Schmerzgrenze. Vom Ursprung alltäglicher und globaler Gewalt, München 2013.
Selbststeuerung. Die Wiederentdeckung des freien Willens. München 2015.
Warum ich fühle, was du fühlst. Intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneuronen, München 2016.