Tugend unserer Zeit

«Die Zeit ist aus Fugen, Fluch der Pein», ruft der junge Hamlet und setzt fort: «Muss ich sie herzustelln geboren sein!» Er will die Zeit richten, will Verantwortung übernehmen und wird so innerlich vom Prinzen zum König. Das scheint Symptom unserer Zeit zu sein: Wir beginnen als Menschheit erwachsen zu werden.


Es war an einer Tagung der Mathematisch-Astronomischen Sektion vor 20 Jahren. Wolfgang Schad hielt einen Vortrag über die Evolution. Sein Kerngedanke: Der Weg zum Homo sapiens war nicht gradlinig, sondern – ob bei der Aufrechten oder der Kopfform – ein Ringen um das Menschliche. Da fragte eine Teilnehmerin, ob dieses Projekt ‹Menschsein› mit der fortschreitenden Umweltzerstörung gefährdet sei. Daraufhin verglich der Biologe und Pädagoge unsere Lage als Gesellschaft mit der eines Heranwachsenden. Mit 16 oder 17 macht man die Nacht zum Tage, isst wenig Gutes und nimmt mit Tabak, Alkohol und anderem Schädliches zu sich. Der Astralleib knüppelt auf den jugendlichen Ätherleib. Die Seele drängt das Leben zurück – und kommt so zu sich. Glücklicherweise sei das junge Leben meist robust genug, dies zu überstehen, bis in den Zwanzigern an die Stelle der Ausschweifung Yoga und Jogging treten. Zum jugendlichen Erwachen, so Wolfgang Schad, gehöre, dass die Seele das Leben dämpft. Dieses Spiel der Kräfte hat sich heute häufig zu einem Tanz auf dem Vulkan entgrenzt. Schad weiter: Im 20. Jahrhundert sei nun die ganze Menschheit in jugendlicher Verfassung gewesen und habe die Natur zurückgedrängt, habe auf ihre Kosten Bewusstsein entwickelt. Doch mit dem 21. Jahrhundert müssten wir Menschen nun Verantwortung übernehmen, müssten als Menschheit erwachsen werden.

Die Rechnung auf dem Tisch

Mit der Klimakrise scheint der Planet Erde nach unserer Reife zu rufen: Mit dem Rückgang der Arten rufen Tier- und Pflanzenwelt und mit der Errosion der Demokratien ruft die Menschheit selbst. Nach einer vom österreichischen Fernsehen übermittelten Studie sind von 137 untersuchten Ländern 67 Demokratien und 70 Autokratien. Der Philosoph Peter Sloterdijk, mit der Zahl konfrontiert, erklärt dann im Interview1 erschreckend einfach den demokratischen Schwund: Er sei nicht verwunderlich, da die Demokratien das Prinzip der Repräsentanz nicht lösen könnten. Ein Drittel der Bevölkerung fühle sich nicht vertreten. Diese Frustration bringe ‹unausweichlich› den Rechtsruck hervor. Der Rechtsruck beschreibe das Demokratiedefizit in einem gegebenen System, so Sloterdijks Rechnung. CO2-Ausstoß lässt die globale Temperatur steigen, Demokratiedefizit lässt die globale seelische Temperatur, das Mitgefühl, die Fähigkeit zum Dialog sinken. Ursache und Wirkung greifen ineinander, rufen uns Menschen in die Verantwortung – ein Zeichen des Erwachsenseins, Erwachsenwerdens, Erwachsenwerdensollens.

Wir werden skeptisch

Zu erkennen, dass es keine einfachen Lösungen gibt, zu erkennen, dass die Welt nicht in Schwarz und Weiß gemalt ist, das gehört zum Erwachsenwerden. Aus dieser Perspektive erscheint die Zeit des Kalten Krieges wie eine Jugend der Menschheit. Damals schien die Welt so übersichtlich: hier der Westen, dort der Osten – zwei Mächte, die beide sich als Heil für die Menschheit sahen. So beschreibt es Ivan Krastev.2 Sowohl der Kommunismus im Osten als auch der Kapitalismus im Westen, beide Weltbilder der europäischen Aufklärung, so der bulgarische Politologe, sahen in sich das Versprechen, die ganze Welt mit ihrem Gesellschaftsmodell glücklich zu machen. Trotz aller nuklearen Bedrohung und vielfachem Overkill damals war es doch ein Lebensgefühl, das eine weite, große Zukunft versprach. Was für ein jugendliches Gefühl! Die Krisen des neuen Jahrhunderts, ihr zahnradartiges Ineinandergreifen, wie Peter Sloterdijk es beschreibt, haben diese Zuversicht in Skepsis verwandelt, haben uns nach der Entzauberung am Anfang des 20. Jahrhunderts erneut und nachhaltig die jugendliche Gewissheit einer besseren kommenden Zeit genommen. «Jedem Alter des Menschen antwortet eine gewisse Philosophie», schreibt Goethe in ‹Maximen und Reflexionen›.3 Weiter: «Das Kind erscheint als Realist; denn es findet sich so überzeugt von dem Dasein der Birnen und Äpfel als von dem seinigen. Der Jüngling, von innern Leidenschaften bestürmt, muß auf sich selbst merken, sich vorfühlen: er wird zum Idealisten umgewandelt. Dagegen ein Skeptiker zu werden, hat der Mann alle Ursache; er tut wohl, zu zweifeln, ob das Mittel, das er zum Zwecke gewählt hat, auch das rechte sei.»

In die skeptische Verfassung scheint nun die ganze Menschheit gekommen zu sein – ja, sie wird erwachsen. Im 20. Jahrhundert ließ es die Öffentlichkeit, ja vielleicht der Weltgeist noch durchgehen, dass Europa politisch von Werten sprach, aber insgeheim doch seine Interessen vertrat und durchsetzte. Heute geschieht das weltweit mit offenem Visier. Brasilien oder Indien mögen Russlands Angriff auf die Ukraine missbilligen, was politisch zählt, sind die Interessen, ist die Antwort auf die Frage: Wie bewahre ich meinen Einfluss, wie wächst er in einer komplexen multipolaren Welt?

Alle ins Boot

‹Why Greta Makes Adults Uncomfortable› titelte vor vier Jahren ‹The Atlantic›. Tatsächlich, so wie Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf uns zurief, ein Kind zu werden, so rief Greta Thunberg und mit ihr eine Generation: ‹Werdet erwachsen!› Erwachsenwerden ist wohl auch die Botschaft der afrikanischen Staaten, die jetzt ihre letzten kolonialen Fesseln abstreifen. Was im einzelnen Menschen die Individualisierung ist, das zeigt sich weltpolitisch nun als Entkolonialisierung, als Suche nach Identität. Dabei zeigt der Konflikt in Palästina die Erzählung der Entkolonialisierung im Brennglas. Wohl deshalb schlägt er weltweit solche Wellen. Das Erwachsenwerden ist ein globaler Schmerz, da führt keine höhere Instanz mehr, keine Ideologie, kein Heilsversprechen, wir selbst sind es. Skepsis und interessengeleitetes Handeln sind Schatten der Adoleszenz, Verantwortung und Bewusstsein und der Wille, alle Menschen ins Boot zu nehmen, ihr Licht. Dieses Licht aneinander zu bemerken und zu fördern ist Tugend unserer Zeit.


Foto Alexander Grey, unsplash

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Footnotes

  1. Gespräch mit Imogena Doderer, ‹Der Mensch als Brandstifter›, ORF2, Kulturredaktion.
  2. Im Interview mit David Precht: ‹Zerrissene Welt –Zwischen Werten und Interessen›, Ivan Krastev zu Gast bei David Precht, ZDF.
  3. Joh. Wolfgang v. Goethe, Maximen und Reflexionen. S. 806.

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