Das Träumen ist ein Pfad zwischen Schlafen und Wachen, ein farbenreicher Zauberort. Wir haften nicht an und gestalten doch eine Welt.
Als mein Vater starb, hörte ich auf zu träumen. Die Nacht wurde mein traumloser Schutzraum, in dem ich endlich allem irdischen Schmerz entfliehen konnte. Am Tag fühlte ich mich gefangen, wie in einem Roman von Michael Ende. Momo nahm mich jeden Morgen an die Hand und führte mich durch die ersten Wochen. Ich blieb innerlich allem fern, was um mich geschah, als würde mich eine große Wattewolke umhüllen. Der Zeitstrom, in dem sich meine Mitmenschen bewegten, floss über mich hinweg, langsamer als bei ihnen, zähflüssiger. Ungläubig stand ich neben meinem Leben – immer darauf gefasst, dass es wieder passieren könnte, dass etwas Unvorhergesehenes einschlägt und mir den Boden unter den Füßen wegzieht. Es hätte mich nicht gewundert. Solche Intensität kannte ich bisher ausschließlich aus meiner Traumwelt. Nur meine Nächte blieben beruhigend schwarz.
Dann aber kam er. Mein Vater kam in der Nacht, um sich zu verabschieden. Drei Wochen nach seinem Weggang begegnete ich ihm, so wie er immer gewesen ist: alterslos, groß, lächelnd und warm. Der Mann meiner Kindheit. In den Monaten zwischen dem Unfall und seinem Tod war er schmaler, zart und durchlässig geworden und ich daneben hilflos. In der nächtlichen Begegnung fühlte ich ihn kraftvoll und strahlend, mich haltend. Diesen Moment trage ich seither als Wahrbild in mir. In diesen Tagen verabschiedete sich auch Momo wieder von mir. Und mit ihrem Weggang normalisierten sich Zeit und Raum. Auch die Träume kamen zurück. Ich war zurück im Traum, zurück unter den Sterblichen, die vergessen haben, dass sie sterben werden.
Mystische Gifthasen
Durch die Geburten meiner drei Kinder traten sehr konkrete, teils skurrile Traumwelten in mein Leben, mit ganz eigenen Gesetzen und Gestalten. Mein erster Sohn sprach als Vierjähriger von einem Klavierspieler, der abends an der Grenze zum Traumland wartet. Diesem fingerfertigen Musiker konnte er erzählen, in welche Landschaft oder Geschichte er diese Nacht reisen wollte. Der Pianist schlug dann die entsprechenden Tasten und Töne an – wie Reisekoordinaten – und das so entstehende farbige Lied trug mein Kind fort in den gewünschten Traum. (Er hat dann auch ziemlich schnell Klavierunterricht eingefordert.)
‹Mysa› nennt er diese zweite Heimat. Und Mysa ist ein Ort voll Wunder. Alles, was wir von der Erde her kennen, steht dort Kopf, «nur die Engel stehen richtig rum». Aus dieser Anderswelt stammen auch seine zwei Schutzengel, der eine kraftvoll kriegerisch, der andere beratend und mild – Karacho und Fidort. (Gerade frage ich mich, ob es ethisch-spirituell vertretbar ist, hier die Echtnamen seiner Schutzengel zu veröffentlichen? Ich glaube, ich traue mich!)
Mit den ‹Berichten aus Mysa› begann für unsere damals wachsende Familie eine bis heute andauernde Reise. Denn das mystische Reich des Ältesten erlaubte auch den anderen beiden, ihre Welten zu entwickeln und auszubreiten. Eine Zeit lang glichen unsere Abendessen ethnologischen Reiseberichten. Fragten wir beispielsweise, wie sich das Wetter in ihren Welten verhält, ob es dort auch Klimawandel gäbe, bekamen wir als Antwort drei völlig verschiedene Einblicke in die Seelenkontinente unserer Kinder. Ehrlich gesagt, nutzen wir dieses Abtauchen ins Tagträumen manchmal schamlos aus. So etwa bei langen Spaziergängen, wenn das Quengeln zunimmt, reicht meist eine Frage wie: «Wer regiert gerade noch mal in Mysa?» und schon entspinnt sich ein Erzählstrom, der die Anstrengungen des Weges vergessen lässt.
Bei unserer mittleren Tochter geht es weniger um fremde Welten als um eine sozial herausfordernde Konstellation. Völlig hineingesogen hören wir regelmäßig von drei Wesen, die sich in ihrer Obhut befinden: Die sogenannten ‹Gifthasen›. Weltweit gibt es nur noch drei ihrer Gattung und sie ist die Einzige, die sie zähmen kann und nicht von ihrem Gift verletzt wird. Ihre Abenteuer sind weniger legendenhaft und handeln eher von Alltagswundern und Situationskomik. Beispielweise, wie sie die drei Gifthasen auf einer komplizierten Reise mit zwanzig Koffern durch die Kontrollen eines Flughafens schmuggeln musste. Der Tenor ist meist ähnlich: Sie muss die Menschen um sich herum immer wieder vor den gefährlichen und launischen Wesen schützen – wenn sie Angst haben, spucken sie meterweit mit Gift – und andersherum natürlich die Hasen vor den allzu neugierigen Menschen behüten. (Eine Signatur, die viel über ihr Innenleben verrät!)
Die dritte Welt hat unser jüngster Sohn mitgebracht, der eine echte Willensnatur ist. Der Name seiner Bande ist dabei Programm: Es sind die ‹Bungabanga›, die täglich Erfindungen machen und mit Kraft und Geschick alle Weltprobleme lösen.
In seinen ersten Lebensjahren lauschte er eher den Geschichten der Großen, doch im Hinfiebern auf die Einschulung wurden sie zu seinem liebsten Gesprächsthema. Bei den Bungabanga finden wie bei uns Wahlen statt. Meistens wird jedoch einfach der Stärkste und Klügste zum König. Oft – aber nicht immer – ist unser Sohn dort im Amt. Die Krone muss allerdings abgegeben werden, wenn die Bande Probleme hat, die andere besser lösen können. Die Bande gliedert sich in Berufsgruppen. Da gibt es Baumwerfer, fliegende Affen als Fortbewegungsmittel oder die legendären ‹Schanzen›. Die Bungabanga sind vor allem mit dem Ausfeilen ihrer jeweiligen Berufskunst beschäftigt. Von Kind an wählen sie ihr Spezialgebiet. Sie bauen vor allem Werkzeuge, Tempel, Schatzkammern, Waffen und Fallen, Letzteres um in den Streitereien mit dem nervigen Nachbarstamm der ‹Bingis› (den seine Schwester entwickelt hat) gut bestehen zu können. Andererseits geht es auch um ganz weltliche Themen. Gerade heute spazieren wir durch die Wälder der Rhön, und als würde er die aktuelle politische Debatte in der Luft spüren, kommt plötzlich von der Seite: «Mama, weißt du, dass die Bungabanga jetzt pleite sind?» Es folgen wunderliche Ausführungen über den Raub des Staatsschatzes und welche Fallen einfach nicht funktioniert haben.
Mir scheint, als ob seine jahrelange Zugehörigkeit zu dieser Bande, all ihre Rituale und Lebensformen ihm eine innerliche Referenzlinie schenken. Alles Neue, das ihm begegnet, wird damit abgeglichen: «Das ist bei den Bungabanga auch so!» oder «Bei den Bungabanga ist das ganz anders!»
Traumsüchtig
Ich lese. Bücher sind meine Sucht. Ich verschwinde in ihnen, wie ich als Kind tagelang in Rollenspielen verschwand. Oft schlafe ich ein, das Buch noch in der Hand, das Licht ungelöscht. Ich gleite von meinem Alltags-Ich über die Märchen- und Romanwelten hinüber in den Schlaf. Als dreifache Mama (und neuerdings auch noch Hundechefin) ist die Erschöpfung am Abend oft so groß, dass der Schlaf mich wie eine Wellness-Oase lockt. Mein inneres Rad ist aber noch so im Schwung, dass ich es schwer habe, gleich zur Ruhe zu kommen. Darum das Lesen – wie ein Ballon, der mir erst mal hilft abzuheben. Ich spüre den leichten Luftzug beim Umblättern der Seiten, der mich beruhigt, das langsame Abtasten der Buchstaben, die immer gleiche Linienführung. Bis dann eine der Seiten zur letzten wird, sich zu einem Fallschirm entfaltet, der mich abwirft, gerade da, wo ich landen soll, um in einer anderen Welt – oder ist es die gleiche? – aufzuwachen.
Bild Ohne Titel, Miriam Wahl, 2020