Der Grundstein für die Zukunft

Seit zehn Jahren trifft sich im Norden der Niederlande zweimal im Jahr eine Gruppe von Menschen, die sich mit dem Inhalt des Grundsteinspruchs und der Grundsteinlegung beschäftigt. Die Frage nach der Erneuerung der Mysterien durch die Weihnachtstagung hat Henk Verhoog dabei besonders beschäftigt. Hier einige Ergebnisse seines Suchens und seine Anregung für die Vorbereitung der 100-Jahr-Feier der Weihnachtstagung.


Während der Grundsteinlegung der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft am 25. Dezember 1923 spricht Rudolf Steiner von einer Erneuerung des alten Mysterienwortes ‹Erkenne dich selbst›. Es ist eine Erneuerung ‹aus den Zeichen der Gegenwart heraus›. Damit ist das Michaelzeitalter gemeint, dass 1879 seinen Anfang nimmt. Michael ist der große Inspirator für die Erkenntnis des dreigliedrigen Menschen. Es geht um das ‹Erkenne dich selbst›: um Leib, Seele und Geist.

Die Grundsteinlegung und der Grundsteinspruch enthalten auch die Essenz der mit den Klassenstunden gegründeten esoterischen Michael-Schule. Bei fast allen mantrischen Sprüchen dieser Schule geht es um die Verinnerlichung des Prinzips des dreigliedrigen Menschen im Verhältnis zum Kosmos. Das Einlassen in die geistige Welt geschieht erst, nachdem der Mensch ‹die Drei› geschaut hat, nämlich die drei voneinander getrennten Seelenfunktionen Denken, Fühlen und Wollen und ihr Verhältnis zum Kosmos. Wenn diese Verinnerlichung weit genug fortgeschritten ist, wird der Moment erreicht, wo der Mensch imstande sein wird, einen innerlichen Tempel aufzubauen, in welchem die geistigen Hierarchien erscheinen können.

Im Eröffnungsvortrag der Weihnachtstagung am 24. Dezember sagt Rudolf Steiner, dass die anthroposophische Bewegung ein Götterdienst ist, der die Seele eines jeden Einzelnen, der sich ihr widmet, mit den Urquellen alles Menschlichen in der geistigen Welt verbinden möchte. Das ist es auch, was die Klassenstunden erreichen möchten: sich der Worte «Ja, das bin ich als Mensch, als gottgewollter Mensch auf Erden, als gottgewollter Mensch im Weltenall» bewusst zu werden. In der letzten Klassenstunde werden diese Urquellen des dreigliedrigen Menschen gefunden.

Die neuen Mysterien brauchen keinen äußerlichen Tempel. Dieser Tempel wird von den Menschen selbst, in Zusammenarbeit mit den geistigen Wesen, im Inneren erbaut. Die Erkenntnis oder Einsicht in den dreigliedrigen Menschen ist der Ausgangspunkt, aber diese Erkenntnis muss in das Herz eindringen. Man kann das Mysterium von ‹die Drei sind die Eins› nur mit dem Herzen verstehen. Es fällt auf, wie oft Rudolf Steiner das Wort Herz im Eröffnungsvortrag gebraucht. Dass die Bewegung gottgewollt ist, «wollen wir in unsere Herzen tief einschreiben, wollen es zu unserer tiefsten Herzensangelegenheit machen», denn «das Wichtigste, was in diesen Tagen getan werden soll, ist zu tun in Ihrer aller Herzen». Unser «Herzblut muss dafür zu schlagen fähig sein».

Aus Herzen gründen

Im vierten Teil des Grundsteinspruchs wird die Hoffnung ausgesprochen: «Dass gut werde, was wir aus Herzen gründen, was wir aus Häuptern zielvoll führen wollen.» Als Erstes aus Herzen gründen, was ist damit gemeint? Wie macht man das? Ich verstehe es so, dass jede Idee zum Ideal gemacht werden muss. Daran muss sich der ganze Mensch beteiligen. In diesem speziellen Fall geht es um eine Grundsteinlegung der Anthroposophischen Gesellschaft. Aus Herzen gründen bedeutet hier, dass es um anthroposophische Herzen geht, die sich dieses Grundsteins bewusst werden können.

Hinzu kommt noch, dass es um etwas Gemeinschaftliches geht. Es geht darum, dass wir etwas gründen. Es ist nicht nur unsere persönliche Angelegenheit. Das göttliche Licht, die Christus-Sonne scheint für die ganze Menschheit. Am Ende der Grundsteinlegung sagt Rudolf Steiner, dass mit dem Ertönen des Grundsteinspuchs im eigenen Herzen eine «wahre Vereinigung von Menschen für Anthroposophia» gegründet werden kann. Und im Eröffnungsvortrag sagt er, dass er die Anwesenden «hierher gerufen hat, um im echten anthroposophischen Sinne eine Harmonie von Herzen hervorzurufen».

Um eine Harmonie von Herzen hervorzurufen, muss an Gemeinschaftsbildung gearbeitet werden. Das geht nicht von selbst. Das geht nur, wenn die Herzen mit aller Kraft daran beteiligt sind. Anthroposophische Gemeinschaftsbildung bedeutet für Rudolf Steiner, dass wir an dem Geistig-Seelischen des anderen Menschen aufwachen oder dass wir versuchen, den Christus in den anderen Menschen zu sehen. Dabei müssen wir unser eigenes Ich zurückhalten und uns verbinden mit dem höheren Ich des anderen Menschen. Für mich gehört dies zum Selbstbesinnen im Sinne der zweiten Strophe des Grundsteinspruchs. Selbstbesinnen im Seelengleichgewichte. Das höchste Ziel der Selbstbesinnung ist die Vereinigung mit dem Welten-Ich, mit Christus.

Die nachatlantische Kulturperiode

Bei der Einweihung einer neuen Mitgliederguppe in Düsseldorf hielt Rudolf Steiner einen Vortrag mit dem Titel: ‹Gemeinschaft über uns, Christus in uns› (GA 159, 15. Juni 1915). Er beschreibt hier, wie das brüderliche Zusammenwirken der Mitglieder eine besondere Bedeutung für die geistige Welt hat. Es entsteht dadurch die Möglichkeit für das Geistselbst, sich mit einer Gruppe zu verbinden. Das gemeinschaftliche geistige Ideal schwebt sozusagen als ein Wesen über dieser Gruppe und kann aus der geistigen Welt als Inhalt der nächsten Kulturperiode wieder auf die Erde zurückkommen.

Anthroposophi­sche Gemein­schaftsbildung bedeutet für Rudolf Steiner, dass wir an dem Geistig-Seelischen des anderen Menschen aufwachen, dass wir versuchen, den Christus in den anderen Menschen zu sehen.

Das wird sehr konkret, indem Rudolf Steiner darauf hinweist, dass die Anthroposophische Gesellschaft dazu berufen ist, die nächste, die sechste nachatlantische Kulturperiode vorzubereiten. In den alten Mysterieschulen war es immer so, dass die nächste Kulturperiode vorbereitet wurde. Wenn mit der Weihnachtstagung die Mysterien erneuert wurden, kann man also davon ausgehen, dass damit auch die sechste nachatlantische Kulturperiode vorbereitet wird. Das würde bedeuten, dass die für diese Vorbereitung zu entwickelnden Charaktereigenschaften auch für die Erneuerung der Mysterien durch die Weihnachtstagung gelten.

Es geht dann darum, die folgenden Ideale in den Herzen zu pflegen: erstens, jedes Leiden eines anderen Menschen als sein eigenes erfahren. Jeder Mensch wird sich als ein Teil des Ganzen fühlen und auch miterleben, was im Ganzen erlebt wird. Steiner nennt es auch brüderliches soziales Zusammenleben. Zweitens die Sehnsucht nach völliger Freiheit des Denkens auf religiösem Gebiet. Und drittens die Anerkennung der geistigen Welt und den Antrieb, sich damit zu verbinden.

Was wir aus Häuptern zielvoll führen wollen

Ganz am Ende der Grundsteinlegung ruft Rudolf Steiner die Miglieder dazu auf, den Geist, das Licht des Grundsteins hinauszutragen «für den Fortschritt der Menschenseelen, für den Fortschritt der Welt». Und am Ende der Weihnachtstagung sagt er: «[…] traget hinaus eure warmen Herzen […] zu kräftigem, heilkräftigem Wirken in die Welt». Der Grundstein ist also nicht nur für uns selbst da. Aber was sollen wir in die Welt wirken, was ist es, was wir «aus Häuptern zielvoll führen wollen»? Welche Ideale liegen verborgen in dem Grundsteinspruch? Ideale, die wir in Gedankenruhe durch Geist-Erschauen finden können: «Wo die ewigen Götterziele Welten-Wesens-Licht dem eignen Ich zu freiem Wollen schenken.»

Ich muss dabei an den Vortrag ‹Was tut der Engel in unserem Astralleib› denken (GA 182, 9. Oktober 1918). Rudolf Steiner beschreibt dort, wie die Geister der Form (Exusiai) die Mission der Erde leiten. Sie bilden dazu imaginative Bilder der Zukunft. Durch die Engel werden diese Bilder in unserem Astraleib geformt, wo sie jede Nacht unbewusst von uns geschaut werden. Es sind die Götterziele der Exusiai, deren wir uns durch das ‹Geist-Erschauen› (dritte Strophe des Grundsteinspruches) bewusst werden und die wir im ‹freien Wollen› wirken lassen können. Die so geschauten Zukunftsziele kommen überein mit den Zielen, die Rudolf Steiner in dem oben genannten Vortrag ‹Gemeinschaft über uns, Christus in uns› nannte. Sie werden dem dreigliedrigen Menschen zugeordnet: Geisteswissenschaft für den Geist, Religionsfreiheit für die Seele (im anderen Menschen etwas Göttliches sehen, wodurch jede Begegnung eine religiöse Handlung wird) und Brüderlichkeit für die Leiber. Die Brüderlichkeit bezieht sich hier auf die sozialen Zustände im physischen Leben.

Damit wurde mir klar, dass man diese Ziele nicht nur mit den drei Strophen des Grundsteinspruchs verbinden kann, sondern auch mit den drei Idealen der sozialen Dreigliederung: Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Für mich war diese Entdeckung aufregend. Es wird dadurch nämlich die Möglichkeit sichtbar, die seit Langem existierende Entfernung zwischen der Bewegung der sozialen Dreigliederung und der Anthroposophischen Gesellschaft zu überbrücken. Wenn der Grundsteinspruch für beide gleich wichtig ist, gilt für sie die gleiche esoterische Basis. Etwas mehr als ein halbes Jahr vor der Weihnachstagung sprach Rudolf Steiner aus, dass die Dreigliederungsbewegung nicht gelungen ist, weil der Michael-Gedanke «nicht stark genug war» (GA 223, 2. April 1923). Ich verstehe das so, dass bei der damaligen Auffassung der sozialen Dreigliederung die michaelische esoterische Basis fehlte.

Auf diesem Hintergrund eröffnen sich große Perspektiven für eine Erneuerung des Impulses der Weihnachstagung nach 100 Jahren. Der Grundsteinspruch könnte als Basis für alle Sektionen dienen und auch zu einer Verbindung der sozialen Dreigliederungsbewegung mit den großen Idealen der Anthroposophischen Gesellschaft führen. Wie wunderbar wäre es, wenn wir alle zusammen an der Vorbereitung der nächsten Kulturperiode arbeiten könnten.


Grafik Sofia Lismont

Print Friendly, PDF & Email

Letzte Kommentare