Der Wille ist mein Zwilling

Kate Estember ist gerade 40 Jahre alt geworden. Mit 26 wurde sie Assistenzprofessorin für Psychologie, mit 28 war sie Mitbegründerin des Tuburan Institute, der ersten Waldorfschule auf Mindanao, der zweitgrößten Insel der Philippinen. Walter Siegfried Hahn sprach mit ihr über ihre Vergangenheit, ihre Zukunft und das, was sie momentan beschäftigt.


Deine Kletterkünste haben uns früh beeindruckt. Leicht und locker wie ein Eichhörnchen bist du an der Kokosnuss hochgeschwebt.

Das reicht bis in meine Kindheit zurück. Auf unserem Bauernhof waren ständig viele Leute – kein Platz zum Träumen. Auf die Spitze eines Baumes zu klettern, das bedeutete Frieden und Freiheit. Ich habe es verinnerlicht. Ich lege mich auch auf sichere und große Äste von Bäumen und schaue einfach in den Himmel. Ich lasse die Seele baumeln und denke nach.

Wie war deine Kindheit, wie bist du aufgewachsen?

Ich habe die Lebensprozesse des elterlichen Bauernhofs aufgesogen. Waldorf ist ein bisschen wie eine Nachbildung meiner Kindheit. Alle waren immer am Tun, jeder hatte seine Aufgaben, unser Land ernährte uns und ich konnte einen starken Körper aufbauen.

Die Grundschule war schön, aber in der Oberstufe wurde ich depressiv, verschlief den Unterricht – nicht zuletzt, weil ich ansehen musste, wie Mitschüler misshandelt wurden. Ob es nicht andere Möglichkeiten gab, mit Schülern umzugehen? Ich wollte nur noch raus, woanders hin, und da ich das jüngste von zwölf Geschwistern war, durfte ich weit weg, in Iloilo, Psychologie studieren.

Eines Tages durfte ich ein Projekt über die Entwicklungsstadien des Kindes machen und nach Hause reisen. Ich bin einfach einer Intuition gefolgt. Eigentlich war das der Beginn meiner Biografiearbeit. Für dieses Forschungsprojekt habe ich meine ganze Familie und die Nachbarn befragt und Dinge herausgefunden, für deren Verarbeitung ich drei bis vier Jahre gebraucht habe. Meine Mutter hat mich bekommen, als sie schon 45 war. Die meisten meiner Geschwister waren schon erwachsen, als ich gezeugt wurde, und als sie von der Schwangerschaft hörten, waren sie wütend. Die Nachbarn waren es auch. Sie warnten vor einem möglichen Downsyndrom. Sie schlugen eine Abtreibung vor. Meine Mutter hatte eine große Krise. Sie zog sich für einen Monat in eine Hütte auf einem Reisfeld zurück. Das Ergebnis ihrer Meditationen war, dass sie einfach ihr Bestes geben würde. Ich glaube, aus dieser Krise kommt meine Willensstärke.

Als du nach Iloilo zurückkamst, warst du vermutlich ein neuer Mensch?

Genau. Ich hatte auch dort den Unterricht verschlafen. Aber im letzten Jahr holte ich auf, bekam einen Job beim Radio, wurde zur Fachbereichspräsidentin gewählt, schloss mit dem Bachelor in Psychologie ab und bekam sofort einen Vertrag als psychologische Beraterin, den ich sechs Jahre behielt.

Bis du 26 warst?

Ja, damals geriet ich wieder in eine Krise. Nach zehn Jahren reiste ich zum ersten Mal wieder nach Hause. Dort wurde mir eine Stelle als Assistenzprofessorin an der Universität meiner Heimatstadt angeboten. Nach ein paar Wochen langweilte ich mich jedoch und begann in Davao mit klinischer Psychologie. Dort hat es Klick gemacht.

Auf meine Frage, wie wir etwas zu den ernsthaften Herausforderungen der Gesellschaft beitragen können, erhielt ich die Antwort: Dies ist nicht der richtige Ort für diese Frage. Das hat mir irgendwie den Boden unter den Füßen weggezogen. Ich wusste, dass dies der Anfang vom Ende von etwas war. Ich habe die Master Class abgebrochen, aber weiter unterrichtet und eine sehr gute Bewertung erhalten. Aber mir wurde klar, dass diese Studierenden in Konzernen arbeiten und den Teufelskreis am Laufen halten werden. Ich bin diejenige, die ihnen die Ressourcen gibt, um andere zu zerstören. Wie schon öfter in meinem Leben fragte ich mich: Was ist wahre Liebe? Ich habe mir gesagt: Ich will nicht mehr Teil dieses Kreislaufs sein. Und ich habe diesen Job aufgegeben.

Du warst 28 und von deinem früheren Leben war nichts mehr übrig. Gab es etwas Neues?

Ich wusste einfach, dass ich loslassen musste. Ich wusste nicht, wie es weitergehen sollte.

Ich schloss mich der Präsidentschaftskampagne von Nicanor Perlas an. Nach der erfolglosen Wahl ging ich mit anderen Freiwilligen durch ein 21-tägiges Programm, das mich verwandelte. Zum Vorbild wurde mir der Beitrag von Jim Sharman vom Gamotcogon Institute. Was mich besonders an Waldorf reizte, war der Aspekt der gesellschaftlichen Transformation durch innere Veränderung. Auf der von Sharman beschriebenen Qualität wollte ich aufbauen. Mir kamen blitzartig Erinnerungen, wie meine Klassenkameraden in der Schule misshandelt worden waren, und ich entschied: Transformation durch Bildung. In dem Programm war auch Maya, eine Dozentin in der Lehrerausbildung. Vier Wochen später kündigte sie und wir gründeten zusammen Tuburan und führten die Schule zusammen, bis sie 2017 wegging. Da die Schule klein war, war jeder an allem beteiligt. Unser langjähriger Mentor Horst Hellmann hat mir 2014 gesagt: Kate, geh studieren! Und das habe ich getan, und deshalb habe ich mich schließlich auch für die Ausbildung in Stuttgart entschieden, die erst im Frühjahr 2021 endete. Jetzt arbeite ich am Aufbau der Oberstufe.

Aber du bist noch mit ein paar anderen Dingen beschäftigt?

Als Schulgemeinschaft überprüfen und erneuern wir jetzt Richtlinien, Lehrpläne und anderes. Ich absolviere online die dreijährige Ausbildung in Biografiearbeit. Ich habe meine Beratungslizenz erneuert und bereits mit einem Klienten gearbeitet. Ich helfe beim Aufbau eines Restaurants und bebaue mit Freunden ein Hektar Land. Ich beabsichtige, meine anderen anthroposophischen Initiativen hier aufzubauen und diesen Ort in das Anthroposophische Studienzentrum Davao zu verwandeln. In der Covid-Zeit habe ich mich gegen die Impfpflicht für Kinder engagiert. Das bedeutete eine Arbeit für die Kinder jenseits von Tuburan und Waldorf. Es erweiterte und vertiefte meine Sorge um und meine Fürsorge für die Welt. Außerdem unterstütze ich eine Waldorfinitiative in der Provinz Antique.

Wie siehst du die Entwicklung der Schule und anderer Initiativen in den nächsten Jahren?

In unseren Waldorfschulen wissen wir, was wir nicht wollen. Aber es wird Zeit, zu wissen, was wir wollen. Die größte Dringlichkeit sehe ich in allem, was mit Lebensmitteln und dem Ökosystem zu tun hat. Ich denke, in der zweiten Hälfte meines Lebens wird es um Bildung und Landwirtschaft gehen und alles andere muss dies unterstützen.

«Anthroposophie als Wissenschaft und spiritueller Impuls ist für mich Gabe und Herausforderung zugleich.»

Du bist wissenschaftlich ausgebildet – wie nimmst du die Anthroposophie in Bezug auf die Wissenschaft wahr, sowohl in ihrer Begründung als auch in der Praxis auf den Philippinen?

Die Anthroposophie hat für mich die Wissenschaft wieder zum Leben erweckt. Anthroposophie als Wissenschaft und spiritueller Impuls ist für mich Gabe und Herausforderung zugleich. Es ist eine Herausforderung, weil ich es nicht von meiner eigenen Menschlichkeit trennen kann. Es ist, als würde ich mich selbst beobachten, während ich die Welt, die mich umgibt, bezeuge und an ihr teilnehme. Erst danach entstehen Aufgabe und Aufruf. Es ist ein langwieriger und anspruchsvoller Prozess. Und ein Geschenk. Das Leben ist einfacher und erträglicher durch die Anthroposophie. Insbesondere liebe ich den wissenschaftlichen Ansatz zur Beobachtung und inneren Erforschung. Für mich fängt hier alles an. Einer der grundlegenden Aspekte der Anthroposophie, die ich auch tief in meiner Seele trage, ist ihr Menschenbild und ihre Verbindung zur Welt. Dieses Bild ist sowohl überwältigend als auch erdend. Das Leben wird sinnvoll dadurch.

Wie siehst du die Anwendungsmöglichkeiten der Anthroposophie auf den Philippinen? Wo kann sie landen? Wie ist es in katholischen, muslimischen und anderen religiösen Kontexten?

In einem Land, das durch langjährige Kolonialisierung in seiner Identität herausgefordert wurde, muss sich die Anthroposophie zunächst in Bildung, Landwirtschaft und Medizin engagieren. Und Menschen haben vermehrt das Bedürfnis, die eigene Biografie und Krankheit zu verstehen oder warum Dinge passieren – also Biografiearbeit, Kunsttherapie, meditative Arbeit werden dringend benötigt. Ein weiterer Bereich ist die ‹Graswurzel-Arbeit›. Wir müssen die Anthroposophie mit einer verständlicheren und nachvollziehbareren Sprache auf den Boden bringen. Ich habe das bei Moon Maglana gesehen, wie sie grundlegende Konzepte in die Sprache der einfachen Menschen bringt und sie an die Praktiken des täglichen Lebens anbindet.

Was siehst du zu diesem Zeitpunkt als das Wichtigste für die Menschheit? Und wenn du einen Wunsch frei hättest, welcher wäre das?

Als Lehrerin ist es mir wichtig, dass jedes Kind in Wärme und Liebe wurzeln und ein gewisses Maß an objektiver Belastbarkeit entwickeln kann. Mein einziger Wunsch wäre, dass alle Menschen zu sich selbst und ihrer wahren Natur erwachen könnten.


Bild Kate Estember, z.V.g.

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