Deshalb sei postuliert: Jede Erscheinungsreihe bringt ihr eigenes Zeitmaß hervor. Sie erzeugt ihren Rhythmus, der sich mit anderen verweben muss. Das Zusammenspiel der Zeitmaße unter Menschen kann ein soziales Problem sein, im Weltgetriebe wird es ein mechanisches. Die Einheitszeit aber überspielt das Problem nur.
Zur Illustration erinnere man sich, dass ‹Abendmenschen› und ‹Morgenmenschen› zuweilen nicht leicht miteinander leben. Und der Bestand des Planetensystems ruht auf einer Harmonie jenseits der platten Ganzzahligkeit. So weit reicht das erste Postulat: Unser Zeitbegriff muss lebendig werden, dehnbar, wo es angemessen, verkürzbar, wo dies richtig erscheint. Der alte starre Zeitbegriff nötigt uns noch, an Wunder zu glauben, wenn in einen Augenblick ein großer Inhalt hineingepresst erscheint. Er schließt uns vom Verständnis mancher Vorgänge aus. Wir fordern also eine Vermenschlichung der Zeit, denn alle diese Tendenzen sind in uns Menschen wahrnehmbar. Wir fordern allerdings auch eine neue Verantwortlichkeit gegenüber der Zeit, denn wir haben die Notwendigkeit erkannt, unser eigenes, sparsam entwickeltes Zeiterleben zu kultivieren.
Aus Georg Kniebe, Was ist Zeit? Stuttgart 1993.
Grafik Sofia Lismont