Wendekind

Geboren im Jahr 1989 in Potsdam, in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik, war der Mauerfall allgegenwärtig in meinem Leben. Er hatte mit mir gar nichts mehr und doch alles zu tun. Neun Monate war ich alt, als es mit der DDR zu Ende ging, und außer einer Geburtsurkunde habe ich von ihr nichts behalten.


Eine Freundin von mir war einige Monate später, exakt in der Nacht vom 9. November 1989, in der Charité-Klinik neben der fallenden Mauer zur Welt gekommen. Ihr erstes lautstarkes Lebenszeichen mag in den Rufen der Tanzenden auf der Berliner Mauer verhallt sein. Doch welch ein Moment, um geboren zu sein! Mitten in den Triumph und den Schmerz so vieler, hinein in das Vakuum, das die Maueröffnung für die Ostdeutschen erzeugte. Freiheit auf der einen, Namenlosigkeit auf der anderen Seite – denn so sehr sich viele freuten und in Hoffnung die Wende durchschritten, so sehr bedeutete der Einbruch in die ‹freie Welt› auch einen Existenzverlust. Es bedeutete, fremd zu werden, in dem Land, in dem man zu Hause war.

Die unterschiedlichen Vergangenheiten wurden nicht zu einer geeinten deutschen Geschichte, sondern es wurde der Untergang einer Ära und der Triumph einer anderen. Die DDR war lange ein Gebilde, das von außen, durch die moralische Brille der Außenstehenden betrachtet wurde und darum auch keinen gleichwertigen Platz in der Geschichte einnehmen konnte. Wenn ich mir die Lebenserzählungen aus Familien anhöre, dann gab es da diejenigen, die lieber ‹raus› oder ‹rüber› wollten, aber viel mehr noch jene, die ihre Geschichte selbst weiterschreiben wollten. Die sich nach Reformen sehnten, die auf ‹Perestroika› und ‹Glasnost› mit Hoffnung und auf ihre ostdeutschen Parteiführer mit Spott blickten, die aber keineswegs die Idee einer gesellschaftlichen Alternative zum liberal-kapitalistischen Westen aufgegeben hatten.

Ich habe keine Erinnerungen an dieses Land, in dem ich und viele Wendekinder – noch – geboren wurden und ich sehne mich nach nichts davon. Aber ich bin umgeben von Menschen, die sehr idealistisch waren und gestalten wollten und sich stattdessen anpassen mussten und ihr biografisches Vakuum immer noch verhandeln. Sie gehen nicht in die Geschichte ein wie Michail Gorbatschow, auch wenn sie ihm durch ihr Leben viel näher waren als diejenigen, die den ‹tragischen Helden› später mit Lorbeer bekränzten. Aber vielleicht kann sein viel beachteter Abschied von der Erde auch die Gesichtlosen, die ihn vor über 33 Jahren begleitet haben, ein wenig beleuchten.


Bild RIA Novosti archive, image #428452 / Boris Babanov / CC-BY-SA 3.0

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