Die Wörter sind für das Kind ebenso Lautgebärden wie Bezeichnung für Dinge. Wenn ein fünfjähriger Knabe mit sicherer Entschiedenheit sagt, ‹lumière› heißt nicht ‹Licht›, sondern ‹Schimmer›, dann empfindet er die dunklere, gedämpfte Lautqualität des französischen Wortes.
In den Kindern ist die Empfindung für die Lautgebärden noch nicht wie bei den Erwachsenen durch die starke Ausrichtung auf den gedanklichen Inhalt geschwächt. Deshalb bildet sich in ihnen am Lautcharakter der Wörter ein nuancenreiches Empfinden. Dies hat allerdings zur Voraussetzung, dass die Erzieher eine reiche Sprache haben und seelenvoll sprechen. Am affektierten Sprechen und an einer zum Jargon degenerierten Sprache entwickelt sich im Hören und im Nachahmen das Gefühl nur in einer verkümmerten Weise. Sprechen und Sprechenlernen haben so einen starken Einfluss auf die Entwicklung des Fühlens bzw. Empfindens wie das Gehenlernen auf das Ich.
Aus Ernst-Michael Kranich: in Stefan Leber, Die Pädagogik der Waldorfschule und ihre Grundlagen. Darmstadt 1992, S. 75.
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