Als Jos de Blok seinen Beitrag am 27. September 2019 in der Schreinerei am Goetheanum beendet, ist Begeisterung im Raum zu spüren wie selten. Für die 200 anwesenden Gäste der World Goetheanum Association scheint sich etwas umgestülpt zu haben im Verständnis von dem, was eine Organisation sein kann.
Buurtzorg (Nachbarschaftsbetreuung), so heißt die Organisation, die Jos de Blok 2006 in den Niederlanden gegründet hat. Heute ist sie längst weltweit bekannt. Nicht zuletzt wird sie in Frederic Laloux’s Buch ‹Reinventing Organizations› (1) als Beispiel genommen für eine Organisation, die «eine lebendige Einheit, mit einem eigenen kreativen Potenzial und evolutionärem Zweck» hat. Das heißt, sie ist nicht auf Hierarchie und Profitsuche gebaut, sondern sie fußt auf allen Mitarbeitenden, die gemeinsam die Ziele der Organisation bestimmen.
Den Menschen wieder im Blick
Buurtzorg ist eine Organisation, die Hauspflege von Krankenschwestern in den Niederlanden organisiert. Sie beruht auf der Beobachtung, dass kranke Menschen zuerst als Menschen gesehen werden wollen und nicht als Problem oder Krankheit. Das ist nicht selbstverständlich in der heutigen Pflege, wo der Patient oft nicht im Zentrum steht. Was dagegen oft gesehen wird, ist nur eine Wunde, eine Krankheit, eine Behinderung. Was von Pflegeorganisationen und Krankenhäusern verrechnet wird, sind dann einzelne Pflegemaßnahmen von einzelnen spezialisierten Pflegenden, die jeweils ihren Teil im Auge haben und behandeln: eine Wunde heilen, duschen, Medikamente verabreichen. Das hat zur Folge, dass ein pflegebedürftiger Mensch bis zu 40 Pflegekräfte in einem Monat sehen kann, die jeweils ein ‹Problem› mit diesem Patienten lösen. Umgekehrt bedeutet das, dass Pflegekräfte ebenso viele Patientinnen zu betreuen haben und damit den menschlichen Zusammenhang verlieren können. Die Pflegenden leiden auch darunter, dass sie mehr Zeit mit der Dokumentation ihrer Leistungen verbringen als mit der eigentlichen Pflege. Die Zeit für den Austausch mit Kolleginnen und Kollegen fehlt ebenfalls, da das nicht als Leistung verrechnet werden kann. Die Frustration mit dieser Situation brachte die Hälfte der ausgebildeten Krankenschwestern in den Niederlanden dazu, zwischen 1995 und 2005 ihren Beruf zu wechseln, so Jos de Blok. Der Ansatz von Buurtzorg ist entgegengesetzt: Die Pflegenden sind als Menschen für die Pflegebedürftigen als Menschen da.
Messbare Resultate
Wie kann man das in der heutigen Wirtschaftsstruktur umsetzen? «Meine Idee ist sehr einfach und logisch. Ich frage mich, wieso nicht alle das machen und wieso die Welt so kompliziert ist», so Jos de Blok über sein Konzept. Vonseiten der Pflegekräfte war es der größte Wunsch, verantwortlich für die Patienten sein zu können und ausreichend Zeit zu haben. Außerdem sollten die Bezahlung und die Ausbildung besser sein. Das hat Buurtzorg ermöglicht, indem die gesamte Hierarchie der Organisation abgeschafft wurde, um Platz zu machen für den ‹Skill of the neighbourhood›: Ein kleines autonomes Team von jeweils zwölf Pflegekräften betreut einen Stadtteil von 5000 bis 10 000 Menschen. Diese Teams verwalten ihr Budget und planen selbst, lösen Probleme und Beschwerden untereinander und bestimmen, was sie an Weiterbildung brauchen. Ohne Hierarchie und Kontrolle. «Vergesst die Codes der einzelnen Pflegeakten, vergesst die Protokolle und macht nur, was ihr für die Pflege der Patienten als notwendig erarchtet», so die Anweisung. Von 20 verschiedenen Produkten wurde auf eine einzige Dienstleistung übergegangen. Mit entsprechender Einsparung an Verrechnungsaufwand: Krankenschwestern müssen jetzt nur noch festhalten, wie viel Zeit sie mit einem Patienten oder einer Patientin verbracht haben. Daneben hat das Unternehmen massiv in IT investiert, damit die Pflegekräfte auch bei der Selbstverwaltung und der minimalen Leistungserfassung keine Zeit verlieren. Dieses Modell führte zu messbaren Ergebnissen. 2009 zeigte die Firma Ernst & Young, dass die Pflegekosten bei Buurtzorg trotz höherer Löhne und besser ausgebildeter Pflegekräfte fast 40 Prozent niedriger waren als bei anderen vergleichbaren Unternehmen. Buurtzorg, bei dem rund 11 000 Krankenschwestern in den Niederlanden pro Jahr 100 000 Patienten behandeln, erhielt fünf Jahre nacheinander den Preis des besten Arbeitgebers. Es inspirierte andere Unternehmen und Behörden.
Horizontalität und Vertikalität
«Ich habe immer ein Problem mit Autorität gehabt. Mit Lehrern und Chefs kam ich nie zurecht. Die Hälfte meiner Schulzeit habe ich außerhalb der Schule verbracht. Das war jene Zeit, in der ich am meisten für das Leben gelernt habe.» Jos de Blok liebt die Provokation. Auch gegenüber sich selbst: Als CEO von Buurtzorg sei er eigentlich fast überflüssig geworden und müsste bald entlassen werden. Diese Philosophie wendet er auch auf Pflegekräfte an: Ihre Arbeit sei auch, die Patienten so zu begleiten, dass sie mit minimaler externer Pflegehilfe selbständig ihre eigene Pflege machen können. «Wir produzieren nichts, sondern schaffen Bedingungen, die es Menschen ermöglichen, so gut wie möglich mit ihrer Krankheit umzugehen.» Wie das geschieht, entscheidet jeder und jede Mitarbeitende in der Begegnung mit den Patienten.
Eine doppelte Dimension lässt sich hier erahnen. Einerseits ist die ganze soziale Organisation des Unternehmens horizontal: keine Hierarchie, keine strategischen Pläne, an die sich alle zu halten haben, keine Zielsetzungen, die von oben kommen. Stattdessen Kolleginnen und Kollegen, mit denen man selbständig den Zweck und die Form der gemeinsamen Arbeit bestimmt. Andererseits ist jeder Einzelne und jedes Team Meister einer Vertikalität: das Konzept (Sinn) meiner Produktion als Arbeitskraft, die Art, die Personen und die materiellen Bedingungen, unter denen ich das umsetze, das alles bestimme ich selbst. Unter solchen Bedingungen kann ich fast ein Künstler werden. In meinen Händen entstehen Geist, Seele und Körper meines Werkes.
In einer Zeit, in der nicht wenige Berufe durch Überlastung und Stress zu Krankheit führen, könnte ein solches Paradigma das Gegenteil bewirken: Wenn ich als Schaffende, als Verantwortungsträger auf Augenhöhe mit meinen Kolleginnen und Kollegen stehe, kann ich auch als Mensch wachsen und mich verwirklichen. «Mitarbeitende brauchen keine ständigen Trainings, sie müssen nur die Frustrationen der Vergangenheiten vergessen», so fasst es Jos de Blok zusammen.
Das zweite World Goetheanum Forum mit 210 Teilnehmenden fand am 27. und 28. September 2019 am Goetheanum statt. Es beschäftigte sich mit neuen Formen der Zusammenarbeit, mit Beiträgen von Jos de Blok (Buurtzorg, Niederlanden), Hanspeter Niggli und Niklaus Schär (Coopera, Schweiz), Ha Vinh Tho (Happy Schools, Vietnam), Stefan Hasler (Sektion für Redende und Musizierende Künste, Goetheanum), Aonghus Gordon (Ruskin Mill, GB), Aline Haldemann, Bettina Holenstein und Susanne Huber (Demeter Schweiz), Armin Steuernagel (Stiftung Verantwortungseigentum, Deutschland), Georg Soldner (Medizinische Sektion, Goetheanum), Gerald Häfner (Sektion für Sozialwissenschaften, Goetheanum) und anderen. Das Forum wird jedes Jahr von der World Goetheanum Association veranstaltet. Diese schafft einen Begegnungsraum für Unternehmen, Institutionen und Initiativen, die sich auf der Grundlage von spirituellen Impulsen und gemeinsamen Werten in innovativen Formen entwickeln und neue Wege der partnerschaftlichen Zusammenarbeit suchen, die das Gemeinwohl sowie die Zukunft von Mensch und Erde in ihr Handeln einbeziehen.
Bilder: World Goetheanum Forum 2019, Titelbild: Jos de Blok, Fotos: Ariane Totzke
(1) Reinventing Organizations, Diateino, 2014.