Das Menschliche und seine Wirklichkeit

Nach Covid-19-bedingten Absagen 2020 und 2021 konnte der Kongress ‹Realizing Humanity› des International Network of Academic Steiner Teacher Education (INASTE) endlich stattfinden, im schönen Mai und im schönen Wien. 150 Teilnehmende aus Deutschland, Skandinavien, Österreich und den Niederlanden fanden sich ein, um nach Perspektiven für Bildung und Erziehung zu suchen.


Es war der vierte INASTE-Kongress, in dem sich Professorinnen, Dozenten und Studierende sowohl aus waldorfpädagogischen Zusammenhängen als auch aus anderen akademischen Institutionen zum Austausch trafen. Der Kongress fand in den Räumen der renommierten Diplomatischen Akademie in Wien statt.

Die Veranstaltenden hatten vier thematische Sektionen gebildet: ‹Lernen und Leben in kultureller Pluralität und Identität›, ‹Entwicklung in Differenz und Gemeinschaft›, ‹Schule zwischen Virtualität und Humanität› und ‹Entwicklung zur Verantwortung für Mensch und Natur›. Zu jedem Themenbereich gab es parallel Vorträge mit anschließendem Austausch im Gespräch. Diskussionsforen und Keynote-Vorträge ergänzten die Kongresstage.

Den Auftakt machte Constanza Kaliks, Leiterin der Pädagogischen Sektion. Sie spannte einen humanistischen Bogen, in dem sie grundlegende Gedanken der Waldorfpädagogik zusammenbrachte mit leitenden Gedanken des Philosophen Emmanuel Levinas, des brasilianischen Pädagogen Paulo Freire und des argentinischen Philosophen Enrique Dussel. Dadurch entstand ein inspirierendes Bild einer übergreifenden Menschlichkeit, die für eine zukünftige Pädagogik essenziell und grundlegend wird.

Jens Beljan von der Universität Jena sprach über ‹Resonanzpädagogik: Impulse für die Förderung von Humanität, Verantwortung und Solidarität›. Anhand seiner Erläuterungen zur pädagogischen Relevanz von zentralen Begriffen der Resonanztheorie des Soziologen Hartmut Rosa – affiziert werden (Berührtsein), Selbstwirksamkeit, Unverfügbarkeit und Transformation – entstand die Vision einer Pädagogik, in der die Entwicklung und Verwandlung von Schülern und Schülerinnen durch leiblich/seelische Resonanzerfahrungen im Mittelpunkt stand. Diese Gedanken waren für die waldorfvertraute Zuhörerschaft nachvollziehbar, obwohl sie aus anderen Perspektiven und Hintergründen entwickelt worden sind. Es war faszinierend, wahrnehmen zu können, wie aus sehr verschiedenen Standpunkten heraus vielfältige Gemeinsamkeiten mit den Zielen der Waldorfpädagogik zum Vorschein kamen. In dieser Art war der Kongress geprägt von der Wertschätzung der Positionen aller Beitragenden im gemeinsamen Suchen nach dem Kind- und Menschengerechten.

Den dritten Vortrag hielt Ida Oberman von der Community School for Creative Education in Oakland, USA. Unter ihrer Leitung ist die Schule inzwischen zu einer wichtigen Stütze der weltweiten Entwicklungen der Waldorfpädagogik geworden. In einem der unterprivilegiertesten Stadtteile einer der ärmsten Städte in Kalifornien hat sich die Waldorf Charter School zu einer Art ‹Oase des Seins und Lernens› für Hunderte von Kindern entwickelt. Der Erfolg dieses Modells wird auch von den staatlichen Behörden anerkannt, da die Ergebnisse und Erfolge der Schulen bei den von Stadt und Land kontinuierlich verordneten Tests auf große und ungewöhnliche Lernfortschritte hinweisen.

Larissa Beckel, die an der Alanus-Hochschule in Mannheim arbeitet, berichtete über ihre Doktorarbeit zu den Erfahrungen mit Migranten und Migrantinnen an deutschen Waldorfschulen. Ihre Studie dokumentiert die Herausforderungen, denen sich junge Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland stellen müssen, und erarbeitet daraus wertvolle Erkenntnisse und Ansätze für die Waldorfpädagogik.

Als letzter Redner sprach Henning Schluß von der Universität Wien, dessen ungewöhnliche Biografie bereits großes Interesse weckte. Er war Kriegsdienstverweigerer in der DDR, anschließend arbeitete er als Maschinenbauer bei der Eisenbahn und wurde letztlich Professor für Evangelische Theologie und Erziehungswissenschaften. Er sprach über ‹Verantwortung für die Zukunft – Herausforderungen des Klimawandels für die Pädagogik›. Die Größe dieser Verantwortung und die Dringlichkeit unseres Handelns wurden von ihm datenbasiert und zugleich bis zu pädagogischen Implikationen eindringlich geschildert.


Als Besonderheit hielt der Kongress eine musikalische Weltpremiere für die Teilnehmenden bereit: Ein Auftragswerk des Zentrums für Kultur und Pädagogik in Wien anlässlich seines 20-jährigen Jubiläums wurde von einem vierköpfigen Ensemble vorgetragen. Das Stück ‹La Porte›, komponiert von Maria Gstättner, basiert auf einem bewegenden Text von Simone Weil.

Foto Zentrum für Kultur und Pädagogik

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