Eine wissenschaftlich fundierte Übersetzung von Rudolf Steiners ‹Geheimwissenschaft im Umriss› ins Chinesische ist im Mai fertiggestellt worden und in einer Vorzugsausgabe von 800 leinengebundenen Exemplaren im Verlag für Dreigliederung in Chengdu gedruckt worden. Nachdrucke werden als Taschenbuch erfolgen. Dies war Anlass für eine Online-Veranstaltung mit vier Referenten und mehr als 1600 Teilnehmenden. Das Gespräch in chinesischer Sprache wurde für die vielen Interessierten aus Indonesien zugleich in Bahasa Indonesia übersetzt.
Mit der Publikation der ‹Geheimwissenschaft im Umriss› vollendet der praktische Impuls zur Gründung einer Waldorfschule in China sein 28. Lebensjahr. Lange zuvor, in den 1930er- und -40er-Jahren, hatte es in diesem Kulturkreis bereits die erste regelmäßige anthroposophische Arbeitsgruppe in Shanghai gegeben. 1994 erzählten Ben und Thanh Cherry in einem Teehaus in Chengdu zum ersten Mal konkret von der Waldorfpädagogik. Nachdem Li Zewu, Li Zhang und Harry Wong, von dieser Idee begeistert, mehrere Jahre im Ausland studiert hatten, erfolgte 2004 mit der Eröffnung eines Kindergartens und einer Schulklasse die Grundsteinlegung für die heute kaum mehr zu übersehenden Aktivitäten im Sinne der Waldorfpädagogik in China.
Um das Interesse an Waldorfpädagogik zu nähren, das Verständnis zu erleichtern und die Implementierung zu fördern, setzte schon bald eine ‹wilde› Übersetzungstätigkeit ein. Wegen fehlender Deutsch-Übersetzer wurden und werden meist englische Vorlagen benutzt, wodurch allerdings heute mehrere Hunderte Titel in Chinesisch erhältlich sind, und diese oft mehrfach. Vom ‹Seelenkalender› etwa gibt es mindestens fünf Übersetzungen. So kam Rudolf Steiner übers Englische nicht nur ins Chinesische, er wurde auch buddhistisch, taoistisch oder klassisch chinesisch interpretiert – je nach Geisteshaltung des Übersetzers oder der Übersetzerin.
Zwölf Grundwerke konkret
Der weit schauenden Initiative von Astrid Schröter und Nana Göbel ist ein wissenschaftlich fundiertes Übersetzungsprojekt zu verdanken, das schon 2008 begründet wurde. Göbel und Schröter machten sich zur Aufgabe, einen Qualitätsstandard für Übersetzungen von Werken Rudolf Steiners vom Deutschen ins Chinesische zu begründen. Das Ziel war, in Übersetzungen von zwölf Grundwerken Rudolf Steiners methodisch und inhaltlich ein Fundament für das Selbststudium in diesem gewaltigen Kulturkreis zu legen. Die dabei erarbeiteten Materialien wie ausführliche Fußnoten oder ein ständig wachsendes Glossar, das die wichtigsten Begriffe in Deutsch, Englisch und Chinesisch bringt, können allen weiteren Übersetzungen als Richtlinie gelten. Nach der ‹Theosophie›, der ‹Allgemeinen Menschenkunde›, der ‹Erziehung des Kindes›, der ‹Philosophie der Freiheit› und dem ‹Heilpädagogischen Kurs› ist mit der ‹Geheimwissenschaft› hiermit das sechste Werk erschienen, das die drei von anderen Interessierten zuvor aus dem Englischen übersetzten Versionen nun ersetzen kann. In Bearbeitung sind derzeit GA 10, 294, 295 und 302 a.
Die Übersetzung der ‹Geheimwissenschaft› wurde von Chang Yong in mehrjähriger Arbeit durchgeführt. Durch das Lesen von Büchern Rudolf Steiners wurde er angeregt, die deutsche Sprache zu erlernen. Er begann damit erst 2014. Obwohl es seine erste große Übersetzung ist, war ihm gerade dieses Buch ein starkes inneres Bedürfnis. Der Umkreis ist entsprechend vorbereitet, das Glossar etwa steht, aber die Übersetzung der Hierarchien fehlte noch. Genau darauf steuert er aber direkt zu, und das mit einer Liebe und Hingabe, wie man sie in China erleben kann, wenn Menschen die Zukunftskraft der Anthroposophie spüren. Von Menschen, die Chinesisch und Deutsch sprechen, wird die Übersetzung Yongs als kongenial zu Steiners Sprache beschrieben, als wunderbar fließend, den Rhythmus erfassend, wie er bei Steiners geschriebenen Büchern üblich ist. «Die Sprache Chinesisch ist auch entwickelbar», sagt Astrid Schröter, die Sinologin ist, selbst viele Jahre in China lebte und den Aufbau der ersten Schule in Chengdu unterstützte. «Wie Steiner, so greift Chang Yong auch alte Begriffe auf und bringt sie in neuem Kontext zur Erscheinung oder er schafft neue in Analogie zu Steiners Wortschöpfungen.»
Online-Feier
In der Online-Veranstaltung weist Schröter zunächst darauf hin, dass die chinesische Ausgabe in der gleichen schönen Aufmachung erscheint wie das Original in Dornach, mit blauem Einband und goldener Prägung. Sie sei auch erweitert worden mit Tafeln und Anhängen, die das Studium erleichtern.
Redner Liu Anding aus der Stadt Xi’an erzählt, wie er Astrid Schröter zum ersten Mal 2008 bei einer Lehrerausbildung über menschliche Entwicklung hat sprechen hören, wie sie in der ‹Geheimwissenschaft› beschrieben ist. «Dies ist eigentlich kein Theorie-Buch», sagt er. «Man mag es als Theorien ansehen, aber es kann und soll überall in die Praxis einfließen. Es spricht nicht nur von Prinzipien, sondern auch von Methoden. Es ermöglicht uns, unsere eigene Kultur viel gründlicher zu verstehen, ja, es ist Teil unserer Kultur. Ich habe dadurch zum Beispiel ein vollkommen neues Verständnis für chinesische Medizin bekommen.»
Samantha Wen, eine Ärztin aus Malaysia, die sich seit 2010 in die Anthroposophie einarbeitet, sagt, das Buch spreche von Ernährung. «Aber wenn da von Ernährung die Rede ist, heißt es nicht, was du essen sollst, sondern es spricht über die Wirkungen von Nahrungsmitteln, was den Ätherleib ernährt, über Vitalität, wie Denken und Nervensystem betroffen sind und überhaupt über die menschliche Entwicklung.»
Ob das Buch denn schwer zu lesen sei, fragt jemand aus dem Publikum. Steiners Bücher seien harte Nüsse. Der Übersetzer Chang Yong kommentiert: «Nach vielen Jahren Übersetzungsarbeit würde ich sagen, ja, es ist schwer zu lesen, aber sicherlich kann jeder es verstehen.» Dem schließt sich auch Redner Liu Anding an: «Ich meine, es ist nicht schwer zu lesen. Man muss einfach eine Methode etablieren: Zuerst muss man Interesse haben, Liebe muss man haben. Interesse und Liebe und dann immer wieder lesen. Nur Liebe bringt uns vorwärts. In der Anthroposophie nennen wir es Willenskraft. Liebe aktiviert den Willen und wenn man es immer und immer wieder liest, wird man es plötzlich verstehen. Überhaupt könnte man Anthroposophie in zwei Worte fassen: Liebe und Freiheit. Bist du frei? Und hast du wirklich Liebe?»