Die Ukraine habe keine eigene Identität, vielmehr sei sie schon immer russich gewesen. Dieses Narrativ Moskaus verfing im Westen. Jetzt, da die Souveränität des Landes bedroht ist, ist es umso wichtiger, sich dessen Identität bewusst zu werden. Dabei helfen aktuelle Publikationen.
Unter dem Titel ‹L’Occident est bien plus influencé par l’impérialisme russe qu’il ne l’admet › (‹Der Westen ist viel stärker vom russischen Imperialismus beeinflusst, als er zugibt›) veröffentlichte die französische Tageszeitung ‹Le Monde› am 9. Mai 2022 ein Interview mit Mykola Riabchuk, Forschungsleiter an der Ukrainischen Akademie der Wissenschaften. «In der ausländischen Presse und in den Reden führender Politiker ist oft zu hören, dass die Ukraine gespalten ist, was sich perfekt mit den Behauptungen der russischen Propaganda deckt», sagt Riabchuk. «Der Westen ist viel stärker vom russischen Imperialismus beeinflusst, als er zugibt.» Er fügt hinzu, dass der Westen kein Bewusstsein von der Existenz der Ukraine hatte, bevor sie 1991 ihre Unabhängigkeit erlangte. So konnte ‹die russische Mythologie›, die bis heute verbreitet sei, auf «internationaler Ebene als wissenschaftliche Wahrheit durchgehen». In den meisten Lehrbüchern von amerikanischen und britischen Universitäten für Kurse in osteuropäischer Geschichte «wird die Ukraine als ‹natürlicher› Bestandteil Russlands dargestellt», so Riabchuk, der sich diese Lehrbücher anschaute. Sie seien häufig von russischen Emigranten verfasst worden «und dienten der Ausbildung von Generationen von Regionalexperten und Journalisten». Dieser Sichtweise stellt Riabchuk am Ende des Interviews einen Abriss der Geschichte der Ukraine entgegen.
Aus polnischem Einfluss in die Autonomie
Bevor sie von Russland annektiert wurde, stand die Ukraine lange Zeit unter polnischer Kontrolle. Das galt insbesondere während der Zwei-Nationen-Republik (1569–1795), die aus dem Großfürstentum Litauen und dem Königreich Polen bestand. «Diese Erfahrung trug dazu bei, die Ukraine im Hinblick auf die politischen Werte in Europa zu verankern», so Riabchuk, da der polnisch-litauische Staat auf einer viel offeneren Basis als Russland funktionierte, «wo ein perfekter Despotismus nach göttlichem Recht vorherrschte». Mit der Gründung des Kosakenstaates im 17. Jahrhundert habe die Ukraine eine Phase der Autonomie erlebt, so Riabchuk. «Dieser Moment ist für die Entstehung der ukrainischen Identität von grundlegender Bedeutung, da er ein Streben nach Freiheit etabliert, das durch die Figur des Kosaken als Freiheitskämpfer verkörpert wird – ein beliebtes Thema in der romantischen Literatur des 19. Jahrhunderts.» Historische Quellen belegen, wie in dieser Zeit die Kosaken zu Trägern einer ukrainischen Eigenständigkeit wurden, die zunächst ausschließlich in Abgrenzung zu allem Polnischen definiert war, im Verlauf der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts jedoch auch inhaltlich die Wurzeln für ein eigenständig gedachtes Ukrainertum legte.1
Erst zu Beginn des 18. Jahrhunderts habe der Zar und spätere Kaiser von Russland, Peter der Große, das damals noch so genannte ‹Moskowien› in Russland umgewandelt, führt Riabchuk aus. Dabei dehnte sich das Russische Reich aber zunächst nach Osten, Richtung Pazifik, aus. «Zu dieser Zeit gab es noch kaum Kontakte zwischen der Ukraine und Moskau.» Erst am Ende des 18. Jahrhunderts geriet die Ukraine vollständig unter russische Kontrolle und der größte Teil dessen, was die Ukraine heute ausmacht, lebte unter russischer Herrschaft. Die eigene Sprache wurde verboten und Intellektuelle wurden verfolgt. Europa diente als symbolischer Bezugspunkt, «um sich dem russischen Imperialismus zu widersetzen. Die Ukrainer und Ukrainerinnen begannen zu sagen: ‹Wir sind keine Russen, sondern Europäer.›» So sei während der Ausbreitung des Nationalismus in Europa im 19. Jahrhundert die ukrainische Identität «gefestigt» worden. Seit diesem Gründungsmoment verstehe sich die ukrainische Bevölkerung als europäische Nation. «Im Gegensatz zu dem, was man hört, gibt es also keine natürliche Nähe zwischen Russen und Ukrainern, sondern die nationalen Bestrebungen der Ukrainer sind seit Langem auf Europa gerichtet», so Mykola Riabchuk.
Ungleiche Brüder
Zu ähnlichen Schlussfolgerungen kommt der Schweizer Historiker Andreas Kappeler, lange Zeit Osteuropahistoriker in Köln und Wien. In seinem 1994 erschienenen Buch ‹Eine kleine Geschichte der Ukraine› führt er aus, dass die Ukraine über jahrhundertealte Traditionen von Sprache und Literatur, Staatlichkeit und Geschichte verfügt, die sich klar von denen Russlands unterscheiden. Die Forschungen Kappelers bekräftigen die Aussagen Riabchuks in der Zeit eines Krieges, der einer Geschichtsauffassung entsprang. Bereits 2008 versuchte Wladimir Putin US-Präsident George W. Bush zu überzeugen, dass die Ukraine gar kein Staat sei. Er rechtfertigte die Annexion der Krim damit, dass diese stets untrennbarer Teil Russlands gewesen sei. Helmut Schmidt spiegelte Moskaus Anspruch auf die Krim mit der Bemerkung, dass unter Historikern umstritten sei, «ob es überhaupt eine ukrainische Nation» gebe. Ein Fehlurteil, so Kappeler, der anmerkt, dass der Westen regelmäßig «unbesehen die russische Sichtweise, die seit zwei Jahrhunderten die Deutungshoheit hat», übernehme. In seinem 2017 erschienenen Buch ‹Ungleiche Brüder: Russen und Ukrainer› schreibt Kappeler über die Unterschiede und Parallelen zwischen Russen und Ukrainern vom Mittelalter bis heute. Die Ansprache Putins zur Rechtfertigung der Krim-Annexion entlarvt er als Ansammlung historisch «falscher Behauptungen und Verdrehungen» und sieht vielmehr bei den muslimen Krimtataren mögliche Ansprüche auf die Krim.2
Freiheit, Brüderlichkeit und Gleichheit in der Ukraine
Sowohl Russen wie Ukrainer sehen ihre nationalen Wurzeln in der Kiewer Rus. Das ist fragwürdig, weil die Kiewer Rus vom 9. bis zum 13. Jahrhundert als Gemeinschaft verschiedener Fürstentümer zu sehen ist und ursprünglich von skandinavischen Wikingern gegründet wurde. Zu diesem Verbund zählte das später gegründete Moskau nicht dazu. Kappeler deutet auf die fehlende zeitliche Kontinuität hin: die ukranische und die russische Bevölkerung entwickelten sich sehr verschieden und waren anderen Einflüssen ausgesetzt: die russische jenem der Mongolen, des Moskauer Fürsten und dann der Zaren, die ukrainische als Teil Polen-Litauens mit starkem kosakischem Einfluss. «In der ukrainischen Historiografie spielten und spielen die Kosaken eine erheblich größere Rolle als in der russischen», schreibt Kappeler in seinem Buch ‹Die Kosaken› mit Verweis auf das 1648 auf ukrainischem Boden gegründete Hetmanats. «Die ukrainische Historiografie ist einheitlicher als die russische: Sie konzentriert sich auf die ukrainischen Kosaken als wichtigste Träger einer frühneuzeitlichen ukrainischen Nation.»3
In Moskau herrschten autokratische Regierungsformen und Distanz zu Europas gesellschaftlichem Aufbruch. Demgegenüber gab es in der heutigen Ukraine viel Sympathie für die Ideale der Französischen Revolution und deren demokratischen Gehversuche. Auch wenn sich diese politische Kultur Europas in der Ukraine noch wenig verwirklicht haben mag, ist sie nach Kappeler doch «der wichtigste ukrainische nationale Mythos», der sich in den Demonstrationen auf dem Kiewer Maidan von 2013/14 gegen den Präsidenten Wiktor Janukowitsch zeigte. Sicherlich würde er heute hinzufügen: und der Widerstand gegen den Krieg Putins als Vertreter der Großmacht Russland, der seinen Angriff auf die Ukraine auf einer Geschichtsauffassung gründet, die die Ukraine als Staat und Kultur leugnet.4
Bild Malerei von Mykola Ivasiuk, Bohdan Chmelnyzkys Einzug in Kiew im 1649, Ende 19. Jh, Ukrainisches Nationalmuseum
Footnotes
- https://de.wikipedia.org/wiki/Kosaken.
- https://www.derbund.ch/ausland/europa/allrussischer-anspruch/story/11765011.
- Andreas Kappeler, Die Kosaken. München 2013, S. 8.
- Putin in seiner Rede an die Nation am 22. Februar: «Ich betone nochmals: Die Ukraine ist für uns nicht einfach ein Nachbarland. Sie ist integraler Bestandteil unserer eigenen Geschichte, unserer Kultur, unseres geistigen Raums. […] Die heutige Ukraine wurde voll und ganz und ohne jede Einschränkung von Russland geschaffen, genauer: vom bolschewistischen, kommunistischen Russland.»
Danke….das vermisse ich auch! Er zeichnet genauso wie Moskau ein etwas eindimensionales Bild!
Diesen Textbeitrag zur Ukraine sollten Sie u.a. auch an alle
Botschaften der Länder (ca.3000) senden um das Geschichtsbewußtsein
aufzufrischen.
Gruss
Wolfgang Püschel
Grevenburg/Deutschland/Europa
http://www.tiersteinskulpturen.de
28.Mai 2022
Warum wird weiterhin die „Machno-Bewegung“ totgeschwiegen,
die anarchistische Freiheitsbewegung in der Ukraine, seinerzeit geführt von dem Anarchisten Nestor Machno.
Diese Epoche in der Ukraine ist des Studiums wert. Es gab sehr große befreite, anarchistisch organisierte Gebiete.
Bücher dazu im Berliner Karin Kramer Verlag.
Hansjörg Glauner
Etwas zu der vom Herrn Hardorp beschriebenen prägenden Bedeutung der Kosaken für die Entwicklung des Ukrainischen Selbstverständnisses als Nation:
„Juden hatten als Händler und Steuereintreiber eine Mittelstellung zwischen polnischem Adel und der ukrainischen bäuerlichen Bevölkerung. Bei den Kosaken-Aufständen unter Bohdan Chmelnyzkyj kamen 1648 und 1649 Zehntausende Juden bei Massakern um. Im 18. Jahrhundert wurden die Juden Opfer von Angriffen der Hajdamaken unter Führung von Saporoger Kosaken. Hierbei ist insbesondere das Massaker von Uman während des Kolijiwschtschyna-Aufstandes der Hajdamaken 1768 unter Iwan Gonta und Maksym Salisnjak zu nennen.“
(Quelle: Wikipedia)
Und: „In dem selben Jahr, das Westeuropa endlich den Frieden brachte, im Frühjahr 1648, entfaltete der Kosakenhauptmann Bogdan Chelmnicki einen Aufstand, der bald auf die gesamte Ukraine übergriff. In diesem Aufstand kamen über 100.000 Juden auf entsetzliche Weise um…Die von den Kosaken an den Juden verübten Greueltaten stellten (…) selbst die Barbarei der Kreuzritter in den Schatten.“ Christiane Dithmar, Heidelberg, 2000, S. 27.
Godfried van Ommering
Man halte die Zitate im obenstehenden Kommentar neben folgendem Zitat Mykola Raibchuks aus Detlef Hardorps Beitrag:
„Mit der Gründung des Kosakenstaates im 17. Jahrhundert habe die Ukraine eine Phase der Autonomie erlebt, so Riabchuk. «Dieser Moment ist für die Entstehung der ukrainischen Identität von grundlegender Bedeutung, da er ein Streben nach Freiheit etabliert, das durch die Figur des Kosaken als Freiheitskämpfer verkörpert wird – ein beliebtes Thema in der romantischen Literatur des 19. Jahrhunderts.» Historische Quellen belegen, wie in dieser Zeit die Kosaken zu Trägern einer ukrainischen Eigenständigkeit wurden, die zunächst ausschließlich in Abgrenzung zu allem Polnischen definiert war, im Verlauf der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts jedoch auch inhaltlich die Wurzeln für ein eigenständig gedachtes Ukrainertum legte.“
Godfried van Ommering
Könnten Sie erläutern warum Antroposophen keine Anschauungen über nationalen Identitäten schreiben dürfen? Sollten wir nur „Volksseelen“ verwenden?
Ihre Verweisung nach GA 177 würde das Gespräch vielleicht weiter helfen wenn sie eingebettet wäre in eine Darstellung ihr eigenes Verständnis desselben, und vor allem: wie das sich verhälte zur Inhalt des Artikels hier oben.