Vor 100 Jahren – zu Christi Himmelfahrt, am 25. Mai 1922 – skizzierte Rudolf Steiner im Beisein der Malerin Henni Geck einen ‹Sonnenaufgang› als erste Übung für eine im Entstehen begriffene Malschule.
Zwei kleine sich rundende, sich gegenseitig berührende, aufeinander bezogene, sich leicht durchdringende, miteinander schwingende Gesten, Rot. Da tritt etwas in Beziehung zu sich selbst. In einer intimen Art, die mich sogleich empfinden lässt, dass der Anfang der Malerei in mir selbst liegt. In einem mir unbekannten Wesen – das ich selber bin.
Ein siebter ‹Strahl›, der sich noch nicht nach außen entfaltet, ist im unteren rechten Bereich des Rots erkennbar. Es spannt sich hier das Rot wie eine Sprungfeder. Die strahligen Gebärden treten stufenweise in die volle Sichtbarkeit: von rechts unten aufsteigend und links wieder herab. In den Strahlen auf der linken Bildhälfte hat sich die ihnen ursprünglich innewohnende Kraft bereits entäußert. Merkwürdig starr und undynamisch erscheinen sie daher. Sie sind schon von einem absteigenden Bewegungsstrom ergriffen. Dieser wird im Roten sichtbar in den unten links sich kräuselnden Schwingungen, die den Kreislauf des Rots vollenden: Unterhalb der Mitte berührt sich eine von links ausschwingende Gebärde fast mit dem anfangs beschriebenen, in sich gespannten Bewegungsansatz. Ende und Anfang greifen ineinander. Der ‹Sonnenaufgang› erhält so den Charakter eines Geschehens mit Anfang und Ende, das sich aber beständig in sich selbst erneuert in einem fortwährenden Pulsieren, Zusammenziehen und Lösen. Rechts und Links vereinigen sich in der Mitte. Doch bleibt die Zweiheit in der Einheit bestehen.
Im Anschauen durchdringen sich zwei Seh-Sphären. Ich bin in meinem Sehen in beiden anwesend. Ich sehe sie – und in ihnen sehe ich. Die eine erlebe ich von innen, die andere schaue ich von außen an.
Was sich in dem Rot mir zeigt, ist es dieselbe Kraft, die ich beim Anschauen aufbringen muss? Die Sonne geht in der Selbstbeobachtung auf! «Die Anschauung des sich selbst Hervorbringenden ist aber die Anschauung der Freiheit.»1
Bild Rudolf Steiner, ‹Sonnenaufgang›, 25. Mai 1922
Mit dieser Sonnenaufgangsskizze begann Rudolf Steiners Antwort auf die Frage von Henny Geck nach einem >Schulungsweg für Malerobjektivwie der für die Eurythmie< gegebene.
In den die "Anthroposophischen Leitsätze" begleitenden Ausführungen R. Steiners "Menschheitszukunft und Michael-Tätigkeit" erfahren wir:
"… Die Natur ist dies gottgewirkte Werk des Göttlichen und ist überall Abbild der göttlichen Wirksamkeit. In dieser sonnenhaft göttlichen, aber nicht lebendig göttlichen Welt lebt der Mensch. Er aber hat als Ergebnis des Wirkens Michaels an ihm, als Mensch den Zusammenhang mit dem Wesen des Göttlichen bewahrt. Er lebt als Gott-durchdrungenes Wesen in einer nicht Gott-durchdrungenen Welt. … Menschheit wird sich hineinentfalten in eine Weltentwickelung. Das Göttlich-Geistige, dem der Mensch entstammt, kann als kosmisch sich ausbreitende Menschenwesenheit durchleuchten den Kosmos, der nur noch in dem Abbild des Göttlich-Geistigen vorhanden ist. … Das Göttlich-Geistige wird im Durchgang durch das Menschentum ein Wesen erleben, das es vorher nicht offenbarte. – Daß die Entwickelung diesen Fortgang nehme, dagegen wenden sich die ahrimanischen Mächte. Sie wollen nicht, daß die ursprünglichen göttlich-geistigen Mächte das Weltall in seinem weiteren Fortgang erleuchten…"
Durch die 9 Naturstimmungsskizzen, die weder naturalistisch noch symbolisch sind, lernt der übende Maler seine kosmisch-menschlichen Zusammenhänge zu erfühlen, um in ihrem Sinne Bilder zu gestalten.