Im neuen Roman von Pascal Mercier, dem Philosoph mit bürgerlichem Namen Peter Bieri, vollzieht sich eine Wandlung der Figuren, wie nur das Leben sie schaffen kann. Außerhalb von Kausalität und Linearität findet sich, was nicht abzusehen war und doch werden wollte.
Simon Leyland, die Hauptfigur des Romans, erhält eine ärztliche Fehldiagnose, die seine Lebenserwartung auf wenige Monate einschränkt. Um die Weiterexistenz des von seiner verstorbenen Frau geerbten Verlags nicht zu gefährden, verwendet er die ihm verbleibende Zeit darauf, einen Käufer für diesen zu suchen. Die richtige Person findet sich und nur zehn Tage nach dem Verkauf klärt sich die Verwechslung, die zu der Diagnose geführt hatte, auf. Verständlicherweise führt dies zu dem Bedürfnis, das Leben noch einmal neu zu ergreifen. Das Schicksal und die durch dessen Wirksamkeit ermöglichte Neugestaltung entziehen sich einer direkten kausalen Erfassbarkeit. Die Vielschichtigkeit der Ereignisse fügt sich in einer Art zu einem Ganzen, die nicht von einer außerhalb der Geschehnisse stehenden Instanz planbar ist. Ein gemeinsamer Gestus, den sie bestenfalls erahnen, überschwebt alle an der Situation Beteiligten. Das so entstehende Bild der Lage ist mehr als die Summe der einzelnen Bewusstseinsakte.
Der Roman zeichnet sich dadurch aus, dass er die beteiligten Personen in subtiler Weise nach Formulierungen suchen lässt, die geeignet sind, ihre Situation zu durchleuchten. Denn es ist die Sprache, in der ihr Miteinander eine bewegliche und gleichzeitig verbindliche Form findet. Auch das Unterlassen wird befragt: Es waren eine Reihe von Menschen, die durch Unaufmerksamkeit, Ängstlichkeit oder anderes dazu beigetragen haben, dass Leyland fast drei Monate in der Gewissheit seines nahen Todes gelebt hat. Zu was hat das geführt und wiegt die neue Perspektive den Todesschreck auf?
Leyland reflektiert das Vorgefallene nicht nur im Gespräch mit seinen (erwachsenen) Kindern und mit Freunden, sondern auch in Briefen an seine verstorbene Frau. Hier kann er sich besonders frei aussprechen. Da er nun über eine große Geldsumme verfügt, beginnt er, Projekte befreundeter Menschen zu finanzieren und ihnen damit über Schwierigkeiten hinwegzuhelfen. Gleichzeitig liest er einen Romanentwurf, in welchem eine reiche, alleinstehende Frau in Schwierigkeiten gerät bei dem Versuch, mit ihrem Geld die Not anderer zu lindern. Wie findet man wirklich zu sich selbst? Was führt vom eigenen Lebensentwurf weg? Wann ist Erneuerung authentisch? Direkt nach einer Charakterisierung seines neu geschenkten Lebens gefragt, antwortet Leyland: «Poesie – sie ist das Einzige, was der Größe des Lebens zu entsprechen vermag.» Er, der vorher als Übersetzer tätig war und sich so in die Sprache der Dichtenden hineingelebt hat, beginnt nun, seine eigene Sprache zu suchen. Die Wandlung greift über ihn hinaus, und während er sich allmählich aus Gewohnheiten herausarbeitet und in neuer Weise zu sich selbst findet, vollzieht sich in seinem Umkreis Ähnliches. Überhaupt werden Menschen beschrieben, die durch gegenseitigen freundschaftlichen Austausch dazu kommen, sich selbst besser zu verstehen und neu zu ergreifen. Vertrauen spielt dabei eine wesentliche Rolle. So entfaltet sich Menschlichkeit nicht so sehr im Kampf mit widrigen Umständen, sondern mehr als freilassende Kraft, die eine Atmosphäre der Ermöglichung für sich und andere schafft.
Am Ende ringt Leyland um die Gestaltung seiner ersten Romanfigur. Er sagt: «Und von jedem Satz, ob er von ihm handelt oder nicht, gibt es ein verschwiegenes Echo in ihm, das wir, die Leser, hören, ohne es recht zu bemerken … Das gilt für das, was da in mir ist und erzählt werden will, aber es gilt fast noch mehr für diesen Ton: Ich möchte immer noch mehr davon hören. Es gibt an diesem Ton eine Nuancierung, die ich nicht geplant habe, vielmehr unterläuft sie mir einfach.»
In der gleichen Situation bin ich als Lesende dieses ungewöhnlichen Buches: Ich fühle mich näher bei mir selbst und möchte immer noch mehr davon hören.
Peter Bieri wurde 1944 in einem Vorort von Bern geboren. Er studierte Philosophie, Anglistik und Indologie und arbeitete als Professor für Philosophie bis 2007 an verschiedenen Universitäten. Er veröffentlichte sowohl philosophische Schriften unter seinem bürgerlichen Namen als auch Romane unter dem Pseudonym Pascal Mercier. ‹Nachtzug nach Lissabon› ist wohl sein bekanntester Roman, der 2013 auch verfilmt wurde. Sein philosophisches Werk ‹Das Handwerk der Freiheit – über die Entdeckung des eigenen Willens› (2001) hat ihn als Denker einem breiteren Publikum bekannt gemacht.
Kurz-Biografie: Gilda Bartel
Buch Pascal Mercier: Das Gewicht der Worte. Carl Hanser Verlag, Taschenbuchausgabe München 2021.