Götz W. Werner, geboren am 5. Februar 1944 in Heidelberg, gründete Europas größten Drogeriemarkt, leitete ein Uni-Institut für Unternehmertum, stritt für ein bedingungsloses Grundeinkommen und begeisterte sich für Rudolf Steiners ‹Philosophie der Freiheit›. Am 8. Februar 2022 ist er im Alter von 78 Jahren in Stuttgart gestorben. Eine persönlich-überpersönliche Würdigung.
Ich verdanke Götz Werner in gewissem Sinne mein Erwachsenwerden. Irgendwie zwischen Marx und Schiller kommunistisch-idealistisch eingeklemmt und von einem scheinbar alternativlosen Tagespolitik-Opportunismus angewidert, erlebte ich gegen Ende meiner Schulzeit Mitte der Nullerjahre die Gedanken des selbsternannten «Realträumers» als doppelte Befreiung; als Befreiung aus der «Beispielfalle» und der «Abstraktionsfalle», wie Werner sagen würde.
In die realpolitische Beispielfalle tappt, wer aus tausend Gründen felsenfest davon überzeugt ist, dass das Gute nicht funktionieren kann. In die utopische Abstraktionsfalle tappt, wer sich in Wolkenkuckucksheimen haargenau ausmalt, wie das Gute funktionieren muss. Beides führt dazu, dass realutopische Initiativen als Lebenselixier freiheitlich-demokratischer Gemeinwesen gehemmt werden – einmal aus Fatalismus, einmal aus Fanatismus.
Die Art und Weise, wie der ebenso leidenschaftliche wie erfolgreiche Ruderer (1963 Deutscher Jugendmeister im Doppelzweier) diese Klippen der Versuchung umschiffte – schöpfend aus eigener Erfahrung und eigene Begriffe prägend –, begeisterte mich. Als Revolutionstheoretiker («Revolutionär denken!») und Evolutionspraktiker («Evolutionär handeln!») lud Werner die Zuhörer seiner freien Reden und die Leser seiner verdichteten Schriften stets zu Empirieexpeditionen und Evidenzdemonstrationen ein, die den Einzelnen letztlich auf sich selbst zurückführten, ja dem je individuellen Ich Selbstführung abverlangten – als Voraussetzung gelingender Zusammenarbeit. Werner war ein Vorführer der Selbstführung.
Dass moderne arbeitsteilige Wirtschaft kein Für-sich-Leisten, sondern ein Für-andere-Leisten bedingt, dass wir längst nicht mehr Selbstversorger, sondern Fremdversorger sind, diese Tatsache ließ den nimmermüden Lebensunternehmer andauernd nach Mitteln und Wegen suchen, wie wir möglichst eigeninitiativ für andere tätig werden können. Diese Suche führte ihn regelmäßig über die Grenzen des eigenen Drogeriemarkts dm hinaus, dessen erste Filiale am 28. August 1973, an Goethes 224. Geburtstag, in Karlsruhe eröffnet wurde. Gewiefte Werber brachten das dm-Anliegen später faustisch auf den Punkt: «Hier bin ich Mensch, hier kauf ich ein.» Werner enteignete sich selbst, indem er seine Unternehmensanteile in eine gemeinnützige Stiftung einbrachte. Inzwischen arbeiten über 66 000 Menschen in 14 Ländern für dm.
Dass das moderne ökonomische Füreinander-Leisten jedoch kein Selbstzweck sei, dass es nicht als lohnsklavische Beschäftigungstherapie missverstanden werden dürfe, betonte Werner unermüdlich. Aufgabe der Wirtschaft sei es nicht, Menschen zu beschäftigen, sondern deren Bedürfnisse zu befriedigen und sie darüber hinaus von der Arbeit zu befreien. 2007, 50 Jahre nach dem Erscheinen von Ludwig Erhards Wirtschaftswunder-Bestseller ‹Wohlstand für alle›, forderte Werner in seinem gleichnamigen Bestseller ein ‹Einkommen für alle›, um Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit voranzubringen. In Sachen Grundeinkommen hielt er es mit Schiller, der seinem Gönner Friedrich Christian von Augustenburg 1793 schrieb: «Der Mensch ist noch sehr wenig, wenn er warm wohnt und sich satt gegessen hat, aber er muss warm wohnen und satt zu essen haben, wenn sich die bessre Natur in ihm regen soll.»1
Dass Werner, der nicht im akademischen Elfenbeinturm, sondern in der – wie er es nannte – «Universität des Lebens» studiert hatte, von 2003 bis 2010 am Karlsruher Institut für Technologie als Professor ein Institut für Entrepreneurship leitete, gehört zu den vielen Dingen, ‹Womit ich nie gerechnet habe›, wie der Titel seiner 2013 veröffentlichten Autobiografie heißt. 2019 stiftete Werner schließlich gemeinsam mit seiner zweiten Ehefrau Beatrice an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg eine Professur sowie ein Institut, die sich der Grundeinkommensforschung widmen.
Worum auch immer es ging, sei es um Grundeinkommen oder Konsumsteuer, Selbstführung oder Fremdversorgung, dem siebenfachen Vater und selbständigen «Zahnpasta-Verkäufer» (Werner über Werner) wurde die Anthroposophie im Laufe seines Lebens «zur Quelle […], um die Welt und die Menschen besser zu verstehen». Wobei er zu bedenken gibt: «Man kann die Erkenntnisse Steiners nicht nachmessen, nachwiegen oder nachzählen wie Erkenntnisse der Naturwissenschaften. Aber man kann diese Sätze zur Kenntnis nehmen, man liest und lässt die Worte quasi gegen sein Bewusstsein und seine Seele schlagen. Und dann muss man sich fragen: Was macht die Lektüre mit mir? […] Mich hat die Anthroposophie nicht vereinnahmt; sie hat mich befeuert.»2
Kurzum: Der Zeitgeist hatte etwas vor mit Götz Werner – und dieser mit ihm. Freilich gehören zum Werner-Lebenswerk viele Freunde und Gefährten, ohne die es nicht möglich gewesen wäre. Einige Wegbegleiter hat Werner in seiner Autobiografie gewürdigt. Zur Tragik seines Lebens zählt, dass persönliche Zerwürfnisse zuletzt Medien und Gerichte beschäftigten und ihn zunehmend verzehrten – weit mehr als zweifelnde Stimmen, die ihn als Klassenfeind oder Scharlatan abtaten.
«Jeder Mensch ist ein Unternehmer»: Das war Werners Version von Beuys’ erweitertem Kunstbegriff. Als der vielfach ausgezeichnete Unternehmer-Künstler 2012 in die ‹Hall of Fame› des ‹Manager Magazin› aufgenommen wurde, laudierte ihn der Philosophie-Künstler Peter Sloterdijk. Und was dieser hellsichtige Denker damals formulierte, ist ungebrochen aktuell. Nicht nur habe Werner «ein Imperium der Nützlichkeit geschaffen […], aufgebaut auf den unentbehrlichen Artikeln des alltäglichen Lebens»; vor allem habe er durch seine «inspirierenden sozialreformerischen Ideen […] zahllosen Menschen, die nahe daran waren, in ihren Routinen zu resignieren, unerwartete Momente des Nachdenkens und Neudenkens gewährt».
Werner, so fährt Sloterdijk fort, habe «eine Art von Primärphilanthropie» begründet, die «kein Sekundärphänomen darstellt, das mit schönen nachträglichen Gesten eine unschöne Primärwirklichkeit verdeckt»; sie wirke «nicht bloß kompensierend», sondern verändere «die Verhältnisse von der Basis ausgehend». Werner sei «im Hauptberuf ein Begeisterer […], der nicht an die Trägheit glaubt, sondern an die Antigravitation, den Auftrieb, den Zug von oben».
«Intelligenz», so schließt Sloterdijk, «wird geweckt durch den ungeschützten Verkehr mit der Intelligenz kluger Anderer. Hoffen wir, dass wir den Ideen von Götz Werner hinreichend nahekommen, um von den Viren der Werner-Welt zu unserem eigenen Vorteil angesteckt zu werden.»3 Gewiss ist das unschuldige präcoroneske Metaphorik. Aber sie ist auch nach Corona nicht weniger treffend, weil die Werner-«Viren» weiterhin inspirieren.
Danke, lieber Götz!
Footnotes
- Friedrich Schiller, Briefwechsel. Nationalausgabe Bd. 26. Weimar 1992, S. 299.
- Götz W. Werner, Womit ich nie gerechnet habe. Die Autobiographie. Berlin 2013, S. 65–67.
- Peter Sloterdijk, Laudatio auf Götz Werner. Kronberg im Taunus, 13. Juni 2012.