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Anthroposophie im Dienste von Geflüchteten und Migranten

Gennaro Sanniola ist Vorsitzender der Vereinigung Samp e Diop, die sich seit 2011 der Migranten und Flüchtlinge in Neapel annimmt. Hier berichtet er von der Arbeit seines Vereins.


Unsere Arbeit spielt sich im Herzen des historischen Stadtkerns von Neapel ab, in der Kirche Santa Maria del Rifugio. Betritt man am Nachmittag diese Kirche, springt einem nicht unbedingt das Hauptschiff mit seiner Seitenkapelle ins Auge, vielmehr aber eine Anordnung aus Tischen und etwa 50 bis 60 ausländische Jugendliche, besonders aus Afrika und Asien, sowie einige Lehrpersonen. Vor acht Jahren ist diese Schule für Italienischunterricht aufgrund der Notsituation durch den Libyen-Krieg entstanden. Sie wurde auf Anregung der Professorin Carmela Tagliamonte und des Seelsorgers Alex Zanotelli gegründet. Jede und jeder dieser hier sitzenden Jugendlichen durchlebte eine von Krieg und Flucht, Armut und Qual gezeichnete leidvolle Geschichte.

Sprache und Werkstätten

Die Methode der Schule basiert auf einem empathischen Miteinander, einer Begegnung von Freund zu Freund, und ist frei von einem bevormundenden Verhältnis. Es war etwa ein Jahr nach Beginn des Schulprojekts, als man wahrnahm, dass das Erreichen der Sprachkompetenz Italienisch Niveau A2, das Bedingung für eine Aufenthaltsgenehmigung ist, nicht ausreichte, um die Menschen zu integrieren. Deshalb ließ die Vereinigung ab 2012 auch andere didaktische Werkstätten und Einrichtungen entstehen. Die erste Werkstätte für kreatives Handwerk heißt ‹Abenteuer Blech› und ist auf Impuls des bekannten neapolitanischen Designers Riccardo Dalisi entstanden. Geleitet wird sie vom Architekten Marco Cecere. Hergestellt werden hier Schmuck-, Design- und Einrichtungsgegenstände aus verschiedenen Metallen und Legierungen wie Lampenschirme für den Außen- und Innenbereich, Aschenbecher, Stifthalter, Vasen. Dann entstand Sarama, eine Nähwerkstatt, vor allem mit Frauen, die Kleider aus afrikanischen Stoffen fertigen. Im Jahr 2018 ließen wir das Projekt ‹Ein Stuhl ganz für sich› entstehen, eine Art Schreiner- und Malerwerkstatt, die weggeworfene Stühle repariert, sie neu und fantasievoll gestaltet und ihnen dadurch ‹neues Leben› einhaucht.

Gemeinsam andersartig

Eine wesentliche Charakteristik dieser Werkstätten ist, sowohl jugendliche Flüchtlinge als auch Jugendliche der Umgebung einzubinden. Denn gemeinsames Arbeiten hilft, die Mauer aus Angst und Misstrauen gegenüber der Andersartigkeit zu durchbrechen, die noch immer sehr stark in den Herzen vieler verankert ist. Wichtig ist auch, dass die Aktivität auf das Stadtviertel ausströmt. Mit dieser Intention sind kunsthandwerkliche Straßenlampen entstanden, welche die Straße Via Tribunali beleuchten. Oder es ist die Veranstaltung Maggio dei Monumenti organisiert worden, ein wichtiges Event der Stadt, bei dem die Studierenden aus den Italienischkursen den Touristinnen und Touristen Führungen in der Kirche Santa Maria del Rifugio anbieten.

In einer Zeit, in der freilich auch in Neapel viele die Einwanderung als problematisch und ‹gefährlich› empfinden, wird die Schule als eine kleine Oase der Solidarität verstanden, wo man die Würde der menschlichen Individualität unabhängig von Hautfarbe und Herkunft achtet. Hier wird den Studierenden nicht nur etwas geschenkt, sondern es wird ihnen die Möglichkeit geboten, sich auf die eigenen Füße zu stellen.

Widerstandsgemeinschaft

Wie soll ich unsere Aktivität definieren? Ich würde sagen, wir sind vor allem eine Widerstandsgemeinschaft. In erster Linie trotzen wir dem Rassismus und der Ausländerfeindlichkeit, die unser Land wie eine Welle durchzieht. In zweiter Linie trotzen wir der Kultur der Gleichgültigkeit, welche die Haltung einnimmt, dass das Leid anderer Völker uns nichts angeht. Als Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft bin ich mir der Aktualität der Warnung Rudolf Steiners bewusst, auf die er im Vortrag am 9. Oktober 1918 in Zürich aufmerksam macht: Die Arbeit der Engel in unserem Astralleib wäre, Imaginationen zu bilden, in denen ein grundsätzliches Prinzip wirksam werden wird: dass nämlich in Zukunft kein Mensch glücklich sein kann, wenn andere um ihn herum unglücklich sind. Ich sehe es als wesentlich, dass die Anthroposophie zur Überwindung der Gleichgültigkeit beitragen kann gegenüber unseren auswandernden Brüdern und Schwestern, die vor Krieg, Armut und zunehmend schwieriger werdenden Klimaverhältnissen flüchten.


Bilder: In einer Modeschau präsentiert eine junge Frau aus Senegal eine Jacke und eine Kopfbedeckung, die in der Nähwerkstatt aus afrikanischen Stoffen gefertigt wurden. Einige Frauen der Vereinigung und Junge aus Senegal entwerfen in der Nähwerkstatt ein neues Kleid. Ein Junge aus Mali bearbeitet mit Meißel und Hammer ein Metallblech. Dieser Stuhl wurde von afrikanischen Tischlern aus weggeworfenen Materialien gebaut und von jungen neapolitanischen Dekorateurinnen in der kreativen Recyclingwerkstatt verziert.

Titelbild: Eine Gruppe junger Afrikaner mit dem Werkstattleiter bei der Vorbereitung einer Metallskulptur. Alle Fotos: Verein Samp e Diop.

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