Ein Zeugnis aus Chengdu über die Coronaviruskrise, wie sie dort von Erziehenden, Eltern und Kindern in chinesischen Kindergärten erlebt wurde.
Das Frühlingsfest ist das größte traditionelle Fest in China. Überall finden Familientreffen statt, man sieht viele fröhliche Kinder. Das Frühlingsfest ist auch als ‹Begegnung mit Nian› bekannt. Eine Legende besagt, dass in den kältesten und dunkelsten Nächten des Winters ein Ungeheuer namens Nian in ein Dorf kam, um Menschen und Tiere zu fressen. Durch den Rat eines weisen alten Mannes inspiriert, kamen die Menschen auf die Idee, Feuerwerkskörper, Gongs und Trommeln, rote Farbe und Feuerflammen einzusetzen, um Nian zu besiegen und in die Berge zu vertreiben. Die Menschen waren wieder sicher! Seitdem symbolisiert diese ‹Begegnung mit Nian› einen Neuanfang und wird als Sieg über ein Ungeheuer gefeiert. Gongs und Trommeln, rote Farbe, Feuerwerkskörper, Feuerwerk, Feste, rote Umschläge, Lachen und Lieder wurden nach und nach zu Symbolen des Frühlingsfestes.
Doch wir ahnten nicht, dass Nian in diesem Winter zurückkommen würde. Vielleicht kam es von Fledermäusen, vielleicht kam es von irgendwoher. Es war ein sehr bösartiges und listiges Virus, das sich in der kältesten und dunkelsten Zeit in die Welt der Menschen einschlich. Während die Menschen schliefen, verbreitete sich das Virus in Wuhan wie Tinte auf Reispapier. Als die Menschen aufwachten, hatte sich das Virus unkontrolliert über das Land und die ganze Welt verbreitet. Es war, als ob diese riesige Pandemie und Katastrophe für das ganze Land auf den Pausenknopf gedrückt hätte.
Sie können sich vorstellen, wie schwer und verheerend diese Pandemie ist. Die Atemwege werden beeinträchtigt, das Immunsystem durcheinandergebracht, die Aktivität der Lunge und Luftröhre gestört. In gewisser Weise ist es ein Bild der allmählichen Verhärtung des Menschen, seiner Trennung von der Außenwelt und seiner Unfähigkeit, gesund zu atmen. Worauf scheint es hinzuweisen?
Angesichts dieser Pandemie müssen Regierungen, Wissenschaftler, Ärzte und jeder von uns nachdenken und sich fragen: Was hat die heutige Katastrophe verursacht? Welche Verantwortung hat jeder Einzelne dafür? Was können wir in Zukunft tun, um das Ungeheuer Nian dort zu halten, wo es hingehört? Wie kann der Mensch in Frieden mit der Natur und den Tieren leben? Wie kann das Gesundheitssystem verbessert werden? Wie können wir mit einer solchen Krise umgehen?
In der Dunkelheit sehen wir aber auch eine Menge Licht. Tapferkeit, Größe und Hingabe des Pflegepersonals rührten uns zu Tränen, überall begegnen einem aufrichtige Hilfe, Freundlichkeit und Mut. Erstaunlicherweise hat die traditionelle chinesische Medizin vielen Patienten geholfen. Daher haben sich viele vor allem junge Menschen wieder für chinesische Medizin interessiert.
Wir spüren plötzlich die Kostbarkeit und Schönheit des Lebens. Da die Menschen zu Hause bleiben müssen, können sie nun intimer und ruhiger zusammen sein. Das gibt vielen Menschen die Möglichkeit, das Familienleben wirklich zu genießen und zu schätzen und die Wärme zu spüren. Das Leben während der Pandemie begrenzt den Konsum auf ein Minimum und reduziert den Abfall. Wir bemerken, dass das Leben sehr einfach sein kann. Das ruhige häusliche Leben gibt den Menschen die Möglichkeit, nach innen zu schauen, zu meditieren und zu lesen. Man merkt, wie schön und wichtig es ist, allein oder im engsten Familienkreis zu sein.
Wenn wir die Gelassenheits- und Positivitätsübung der sechs Nebenübungen bewusst praktizieren, können wir viel aus dieser Katastrophe lernen. Für Lehrpersonal und Familien in Waldorfkreisen im ganzen Land ist es ein großes Glück, zu wissen, dass nur eine Person und ihre Familie an dem Virus erkrankt sind, aber sie erholen sich jetzt allmählich. Der Ehemann einer Lehrerin der Waldorfschule Chengdu ging als Arzt nach Wuhan, um an der Frontlinie zu arbeiten. Ein Kind aus dem Waldorfkindergarten in Hangzhou und ihr Vater haben ein sehr schönes Lied für die Menschen und Ärzte in Wuhan geschrieben. Das Lied wurde im ganzen Land verbreitet und rührte viele Menschen.
Heute scheint die Pandemie unter Kontrolle, die Patienten erholen sich, die Menschen gehen wieder zur Arbeit, aber Nian richtet vielerorts immer noch Unheil an. In einigen Städten müssen die Menschen nach wie vor zu Hause bleiben. Die Schulen sind noch nicht geöffnet. Vieles ist auf Eis gelegt, obwohl der Winter fast vorbei ist und der Frühling vor der Tür steht. Wir brauchen weiter Geduld und Vertrauen.
In diesem Kampf ohne Schüsse ist der Alltag der Kinder natürlich stark beeinträchtigt. Lassen Sie uns einen Blick auf deren aktuelle Situation werfen:
• Seit dem 20. Januar können viele Kinder in der Stadt nur noch in ihren kleinen Wohnungen in Hochhäusern sein, ohne draußen spielen oder sich in der Natur aufhalten zu können.
• Sie können auch nicht mit ihren Freunden spielen, sondern nur allein oder mit ihren Eltern. In ihrer Langeweile sind sie manchmal sehr kreativ und spielen gut. Aber der Bewegungsmangel führt auch oft zu Stress und Unruhe.
• Eine riesige Menge an Informationen über die Pandemie überschwemmt die Menschen ständig und gibt den Kindern viel zu viel Aufregung. Angst und Furcht sind die Folge, die Kinder klammern sich an ihre Eltern und haben Schwierigkeiten, zu schlafen und sich zu beruhigen.
• Natürlich gefällt es vielen Kindern, zu Hause zu bleiben, aber der Rhythmus des Familienlebens tendiert dahin, chaotisch zu werden, wodurch der Rhythmus von Wachen, Schlafen und Mahlzeiten beeinträchtigt wird.
• Viele Eltern kümmern sich zwar um ihre Familien, informieren sich aber auch dauernd über die Lage der Pandemie und erledigen ihre eigene Arbeit online. Das Gefühls- und Bewusstseinsleben ist in einer ständigen Unruhe.
Das Online-Lernen scheint eine Möglichkeit zu sein, den Besuch einer Schule zu ersetzen, was plötzlich zu vielen Online-Kursen für Kinder vom Kindergarten bis zur Hochschule geführt hat. China war gezwungen, auf diesem Gebiet ein Pionier zu werden, alle Schüler wurden von heute auf morgen aufgefordert, online zu lernen. Natürlich haben die nationalen Bildungsbehörden einige Tage später betont, dass Erzieherinnen und Erzieher in Kindergärten keine Online-Kurse organisieren müssten, dass sie aber mit den Eltern online zusammenarbeiten sollten, damit sie die Kinder zu Hause unterstützen können.
Wir als Waldorfpädagogen haben uns gefragt, was wir in dieser Situation tun sollen. Wie wollen wir mit der modernen Technologie umgehen? Können wir Leib und Seele der Kinder durch Online-Kurse in Bewegung bringen? Wie können wir ihre Gefühle und ihren Willen auf diese Weise ansprechen? Eine interessante Frage, bei der unsere Fantasie gefordert ist, bei deren Lösung wir aber auch vorsichtig und achtsam vorgehen müssen.
Auf dem chinesischen Festland gibt es insgesamt 320 Waldorfkindergärten. Aufgrund der begrenzten Platzverhältnisse haben nur 40 davon eine offizielle Lizenz. Diese legalen Kindergärten bekamen sofort nach Ausbruch der Epidemie von den lokalen Bildungsbehörden Hilfe zur Epidemieprävention, während die anderen vielen kleinen Waldorfkindergärten selbst Informationen und Lösungen suchen müssen.
Das Waldorf-Forum in China für die frühe Kindheit (CECEF) hat die Aufgabe übernommen, die Waldorfkindergärten und Initiativen in dieser Situation über das Internet zu unterstützen. In vielen Online-Diskussionsforen und -Publikationen haben wir Eltern, Erziehende und Lehrkräfte beraten und auch einer breiteren Öffentlichkeit gezeigt, dass Waldorfpädagogik in China einiges an Ressourcen zu bieten hat.
Hier ein kurzer Überblick über die Schwerpunkte unserer Arbeit während der Pandemie: Vom 27. Januar bis zum 24. Februar haben wir täglich ein bis drei Artikel über Wechat publiziert [das chinesische Pendant zu WhatsApp]. Insgesamt haben wir über 40 Artikel geschrieben, die mehr als 60 000 Menschen erreicht haben. Themen waren unter anderem Gesundheitsvorsorge, praktische Ratschläge für Familienleben und Erziehung, Geschichten und Märchen, Musik und Lieder, Ideen für Reigen- und Bewegungsspiele, Handarbeit und pädagogische Grundsatzartikel. Wir haben auch mehrere pädagogisch-therapeutische Geschichten erfunden und publiziert, die den Kindern helfen sollen, ihre traumatischen Erfahrungen zu verarbeiten.
Für das Waldorf-Forum in Wuhan mit über 500 Mitgliedern haben wir mehrere speziell auf die dortige akute Situation zugeschnittene Artikel mit Ratschlägen und Ressourcen publiziert, die von über 25 000 Personen konsultiert wurden.
Angesichts von Nian und einer Zukunft, für die wir weniger denn je sichere Voraussagen machen können, wünschen wir uns, dass die unten stehenden Worte von Rudolf Steiner uns helfen, Mut, Einsicht und innere Ruhe für unsere Arbeit mit und für die Kinder zu geben:
«Gelassenheit in Bezug auf alle Gefühle und Empfindungen gegenüber der Zukunft muss sich der Mensch aneignen, mit absolutem Gleichmut entgegensehen allem, was da kommen mag, und nur denken, dass, was auch kommen mag, durch die weisheitsvolle Weltenführung uns zukommt.»
Dieser Beitrag wurde ursprünglich im Rundbrief der IASWECE veröffentlicht.
Bilder: Waldorfkindergarten in Chengdu.