In der Vorbereitung einer Tagung über den Grundsteinspruch entdeckte ich, dass die Sprüche von Christian Rosenkreutz, die durch Rudolf Steiner in seinem Grundsteinspruch ausgesprochen werden, bereits in den Gedanken des Dionysius Areopagita lebten. Dionysius hat die Engelhierarchie und die kirchliche Hierarchie in ihrer je dreifältig-dreiteiligen Einteilung beschrieben.
Dionysius Areopagita und Rudolf Steiner
Rudolf Steiner bezog sich von seinem ersten Zyklus über Anthroposophie an bis zum letzten (1) immer wieder auf die Schriften des Dionysius, die vermutlich um 500 n. Chr. geschrieben worden sind. Mir sind sie vertraut, weil ich sie alle ins Niederländische übersetzt habe. Nun erst entdeckte ich, dass nicht nur die Engelhierarchien, sondern auch die Sprüche von Christian Rosenkreutz, die Rudolf Steiner bei der Grundsteinlegung aus den Sphären der Hierarchien erklingen ließ, schon von Dionysius aus diesen Sphären abgelauscht wurden. Anders als Rudolf Steiner bringt Dionysius diesen großen Gedanken aber im Kontext der Taufe (2). Sie erscheinen bei ihm in anderer Weise als bei Rudolf Steiner, der bei der Grundsteinlegung der Anthroposophischen Gesellschaft die Engelhierarchien anrief:
Seraphim, Cherubim, Throne,
Lasset aus den Höhen erklingen,
Was in den Tiefen sein Echo findet;
Kyriotetes, Dynamis, Exusiai,
Lasset vom Osten befeuern,
Was durch den Westen sich gestaltet;
Archai, Archangeloi, Angeloi
Lasset aus den Tiefen erbitten,
Was in den Höhen erhöret wird;
Dann ließ Rudolf Steiner aus den drei Sphären dieser Hierarchien heraus je einen Spruch von Christian Rosenkreutz erklingen:
Ex Deo nascimur. (Aus dem Göttlichen weset die Menschheit.)
In Christo morimur. (In dem Christus wird Leben der Tod.)
Per spriritum sanctum reviviscimus. (In des Geistes Weltgedanken erwachet die Seele.)
Neu geboren werden aus Wasser und Geist
Dionysius hegt die gleichen Gedanken, aber sie erscheinen bei ihm im Lichte des dritten Kapitels des Johannesevangeliums, in dem Johannes das geheimnisvolle nächtliche Gespräch zwischen Jesus und Nikodemus darlegt. Jesus sagt da zu Nikodemus: «Ich sage dir: Wenn jemand nicht von Neuem geboren wird, so kann er das Reich Gottes nicht sehen.» Es ist klar: Wir müssen erst erleuchtet werden, wenn wir das Reich Gottes schauen wollen. Auf die nächste Frage des Nikodemus, wie ein Mensch neu geboren werden könne, wenn er schon alt sei, sagt Jesus: «Ich sage dir: Wenn jemand nicht aus Wasser und Geist geboren wird, kann er nicht in das Reich Gottes kommen.» Von Neuem geboren werden aus Wasser und Geist: Darin sieht Dionysius die Begründung der Taufe. Die Taufe führt also zum Sehen von Gottes Reich. So kommt Dionysius dazu, die Taufe ‹Mysterienhandlung der Erleuchtung› zu nennen. Dionysius weist häufig auf den Bezug zwischen den griechischen Mysterien und den christlichen Sakramenten hin. Hier geht es um den zweiten Schritt des Einzuweihenden in die griechischen Mysterien: Nach einer Zeit der Vorbereitung oder Läuterung (katharsis) steht dieser vor seiner Erleuchtung (footismos). Das ist der Moment, wo ihm die Binde von den Augen genommen wird. Als letzter Schritt folgt dann die eigentliche Einweihung, das Anschauen (epopteia) der heiligen Mysterienhandlung, das heißt in der christlichen Kirche, so Dionysius, das Anschauen der Eucharistie. Bei diesem christlichen Mysterium erscheint das Symbol des Einen (3) als das noch ungebrochene Brot, das in viele Stücke zerbrochen und unter die ganze Gemeinde verteilt wird, wodurch alle am Einen teilhaben. Doch bevor wir das Mysterium sehen und begreifen können, müssen wir erst «aus Wasser und Geist geboren» werden.
Der Kreislauf von allem
Dionysius wählt, um das zu erklären, einen von ihm geliebten Gedanken, der von den platonischen und neoplatonischen Philosophen, zuletzt von dem großen Philosophen Proklus, systematisch ausgearbeitet wurde: den Gedanken des ‹Kreislaufs von allem› (griechisch: kyklos toon pantoon) (4). In diesem Kreislauf von allem wurden drei Schritte unterschieden: 1. Das Eine als Ursache von allem ist das einzig Bleibende (monè). 2. Aus diesem Einen tritt das viele Verschiedene hervor (prodromos). 3. Weil alles durch das Eine verursacht ist, bleibt alles auf das Eine bezogen, nimmt daran teil und kehrt dahin zurück (epistrofè). Das Transzendente bleibt somit immanent in allem anwesend; alles nimmt teil an dem Einen. Was keinen Anteil am Einen nimmt, besteht nicht, hat keine Struktur, keine Kontinuität, ist Nichts, ist kein Wesen, so Proklus (5). Genau diesen Grundgedanken fand Dionysius in der Bibel wieder, diesmal in der Sprache des Glaubens. Er nennt die Taufe «die Einweihung der geheiligten Geburt aus Gott». Diese wird vollzogen durch dreimaliges Untertauchen in das Wasser «als Nachahmung des drei Tage langen Tot- und Begrabenseins des Jesus, der uns das Leben schenkt». Dionysius erzählt dann am Schluss, wie die Taufe endet durch die «Salbung mit wohlriechendem Öl», das Symbol für den ‹Geisthauch Gottes› (6). Die Taufe ist nach Dionysius ganz trinitarisch: Aus Gott werden wir geboren (prodromos), zu Christus kehren wir zurück (epistrofè) und im Geiste nehmen wir teil an dem bleibenden Einen (monè).
Metamorphosen des Kreislaufs von allem
Dionysius war der herausragendste Philosoph in dem Bestreben, die griechische Philosophie und die christliche Theologie als eine feste Einheit zu betrachten. Durch ihn blieb die griechische Lehre des ‹Kreislaufs von allem› im Christentum wirksam. Tausend Jahre später wird dieser umfassende Gedanke wieder bei Christian Rosenkreutz (7) in seiner ‹Fama Fraternitatis› auftauchen, namentlich in den drei Sprüchen: Ex Deo nascimur – In Jesum morimur – Per Spiritum reviviscimus (8). Von Rudolf Steiner werden diese Sprüche fünfhundert Jahre später mit leichten Abänderungen wieder aufgenommen. Der ‹Kyklos toon pantoon› ist darin immer noch zu erkennen: Gott der Eine wird angerufen als der Bleibende, aus dem wir geboren werden (prodromos). Dann wird Christus angerufen, zu dem wir am Ende zurückkehren (epistrofè). Der dritte Ruf gilt dem Heiligen Geist, der uns erwachen lässt im ewig Bleibenden (monè). Das stimmt mit dem vorletzten Satz des Matthäusevangeliums überein: «Taufet im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes.» Aber hier offenbart sich auch die große Schwierigkeit der Monophysiten im Nahen Osten, die nur die Einheit Gottes und nicht sein Erscheinen als Dreiheit verstehen konnten oder wollten. Später wurde dieser Gegensatz zum zentralen Unterschied zwischen Christentum und Islam.
Ex Deo nascimur
Von dem göttlichen Leib, den Gott für uns im Paradies erschaffen hat, können wir leider nicht länger sagen: ‹aus Gott geboren›, so meint Dionysius, denn dieser göttliche Leib wurde von uns Menschen allzu schändlich missbraucht und verdorben. Wir müssen erst durch die Taufe als ‹zweiter Mensch› in der göttlichen Gemeinde wiedergeboren werden. ‹Aus Gott geboren werden› fängt also nach Dionysius nicht bei unserer Geburt an, sondern durch das Ritual der Taufe. Denn durch die Taufe beginnt das Befolgen der heiligen Gebote und damit unser Leben in der Kirchengemeinde, dass heißt unsere göttliche Existenz. «Dadurch wird unsere Seele allmählich umgeformt, sodass sie die heiligen Worte und heiligen Handlungen, die uns den Weg nach oben weisen, empfangen kann.» (9) ‹Aus Gott geboren werden› ist der Anfang unseres Schulungsweges. Dionysius untermauert dies mit dem philosophischen Gedanken, dass wir erst bestehen müssen, bevor wir etwas anfangen können. Wir müssen also erst wiedergeboren werden, bevor wir dem Christus folgen können. Deshalb sieht Dionysius die Taufe als ‹die Geburt aus Gott›.
Auffallend ist, dass die Gedanken des Dionysius fast immer in der Bibel nachweisbar sind. ‹Aus Gott geboren werden› finden wir auch in der Bibel, aber nicht im Gespräch zwischen Jesus und Nikodemus, sondern an anderen Stellen, wo Johannes über das Annehmen von Gottes Wort spricht (10). Dennoch versteht Dionysius ‹Aus Gott geboren werden› im Kontext der Taufe. In der ‹Fama Fraternitatis› von Christian Rosenkreutz finden wir dann das gleiche Geheimnis in dem Spruch ‹Ex deo nascimur›.
In Christo morimur
Auch die beiden anderen Rosenkreutzersprüche stehen bei Dionysius im Kontext der Taufe, denn die Taufe symbolisiert das Sterben und Wiedergeborenwerden in Christus, wie Dionysius sagt, und er ergänzt, «dass die vollständige Bedeckung durch das Wasser ein passendes Bild für den Tod und für die Unsichtbarkeit im Grab ist». Das dreimalige Untertauchen ins Wasser ist eine Nachahmung des Todes von Jesus, der während dreier Tage und Nächte begraben war. Es ist das ‹Zeichen des Jona›, denn Jona war drei Tage im Bauch des Walfisches (11) ‹begraben›. Dieses symbolische Untergetauchtwerden, sagt Dionysius, «lässt uns sterben und neu geboren werden in Christus». Das ist genau das, was Rudolf Steiner andeutete mit seiner Übersetzung von ‹in Christo morimur› zu ‹in dem Christus wird Leben der Tod›. Dionysius sieht darin die Wirkung der Taufe, denn diese ist für uns der Anfang eines neuen Lebens in der Nachfolge des Christus. Vielleicht dürfen wir den Anfang eines anthroposophischen Schulungsweges auch als Anfang eines neuen Lebens in der Nachfolge des Christus auffassen, und somit als eine Taufe oder ‹neu geboren werden› im geistigen Sinne.
Per Spiritum Sanctum reviviscimus
‹Per Spiritum Sanctum reviviscimus› deutet bei Rudolf Steiner auf das Mysterium unserer Wiedergeburt im Heiligen Geist hin. Er erhellt dies mit folgenden Worten als ein drittes Prinzip: «Und erhaben über beides, über das Geborenwerden und Sterben, ist ein drittes Prinzip, das ausgeht von beiden, was gleichwertig wiederum zusammenhängt mit beiden, mit dem göttlichen Vater und dem göttlichen Sohn: der Geist, der Heilige Geist.» (12)
Bei Dionysius erscheint die Geburt aus dem Geiste wiederum im Kapitel über die Taufe, indem er auf die Frage von Nikodemus zurückgreift: «Ich kann doch nicht zurückkehren in den mütterlichen Schoß, um neu geboren zu werden?» Dann sagt Jesus das Wort vom Geborenwerden ‹aus Wasser und Geist›. Die Taufe als Geburt aus Wasser ist leicht zu verstehen, aber gilt das auch für die Geburt aus dem Geist? Dionysius erklärt das anhand der Rolle des Öls am Anfang und Ende des Taufrituals. Der Täufling wird ja, nachdem er aus dem Wasser gezogen worden ist, mit wohlriechenden Ölen gesalbt. Und wiederum drückt Dionysius sich hier in der Sprache der griechischen Mysterien aus: «Die Salbung mit wohlriechendem Öl zum Abschluss dieser Einweihung macht den Einzuweihenden wohlriechend, denn durch die Einweihung, die Gottgeburt, wird der Eingeweihte mit dem Geisthauch vom Ursprung Gottes vereinigt.» (13)
Um dies etwas tiefer zu verstehen, müssen wir uns vergegenwärtigen, wie die Weihe des Duftöls (Myron) nach der Beschreibung des Dionysius vor sich geht. Die Weihung des Myron, so sagt er, wird durch eine Gruppe von Bischöfen ausgeführt, die dabei von der Kraft und Wirkung der göttlichen Seraphim durchdrungen werden (14). So wirkt die Geisteskraft der Seraphim bis hinein in das Taufritual: «Die Gabe und Gnade der göttlichen Geburt, welche die Einweihung vollzieht, wird vollbracht durch die weihende Wirkung des Duftöles.» Diese weihende Wirkung ist also ‹aus dem Geiste geboren›. Und bei der Taufe ist das nicht auf die Salbung am Ende beschränkt, denn schon am Anfang der Taufe gießt der Bischof das Duftöl in Kreuzesform in das Taufbecken aus und führt uns damit vor Augen, so Dionysius, «dass Jesus für uns herabsteigt bis hin zum Tode am Kreuz, damit […] denjenigen, die in seinem Tod (15) getauft werden, […] ein erneutes, gotterfülltes Dasein ermöglicht wird».
Gegenwärtig gibt es reichlich Literatur über Nahtoderfahrungen. An der Grenze des Todes können Menschen eine innere Metamorphose erfahren. Sie können ihr Leben sozusagen neu anfangen. Dies ist eigentlich die Hoffnung, die Dionysius für die Täuflinge hegte. Beim Untertauchen ins Wasser sollten sie wirklich die Schwelle des Todes und die Möglichkeit der Auferstehung erfahren. Das ist die Taufe als «Einweihung der geheiligten Geburt aus Gott».
So kehren wir im Kreislauf zurück zu dem Einen, das sich an uns Menschen als Dreieinheit manifestiert: Aus dem einen Drei-Einen werden wir geboren – darin sterben wir – darin werden wir einst erwachen.
(1) Am 6.10.1900 beginnt der erste Zyklus, herausgegeben als ‹Die Mystik im Aufgange des neuzeitlichen Geisteslebens›, GA 7; am 20.9.1924 endet der letzte Zyklus ‹Esoterische Unterweisungen›, GA 270.
(2) Dionysius Areopagita, ‹Über die kirchliche Hierarchie›, 2. Kapitel über die Taufe.
(3) Dieses Hin und Her zwischen ‹das Eine› und ‹der Eine› ist eine der Subtilitäten der Philosophie und Theologie des Dionysius, die dadurch miteinander verwoben werden.
(4) Proclus (Proklos), 410–485, bedeutender Philosoph an der Akademie in Athen.
(5) Proclus, ‹Stoicheioosis thelologikè›, ca. 480 n. Chr, ins Deutsche übersetzt durch Onnasch und Schomakers als ‹Theologische Grundlegung›, Hamburg 2015.
(6) Dionysius Areopagita, ‹Kirchliche Hierarchie›, 397 A, 404 B, 404 C.
(7) Christian Rosenkreutz, Mystiker des 15. Jahrhunderts.
(8) ‹Fama Fraternitatis. Oder Entdeckung der Bruderschaft des Hochlöblichen Ordens des R. C.›, 1. Druck 1614, S. 22. Rudolf Steiner wechselte ‹in Jesum› durch ‹in Christo› aus; und ‹Spiritum› durch ‹Spiritum Sanctum›. Er gab diesen Spruch auch noch in anderen Fassungen.
(9) Dionysius , ‹Über die kirchliche Hierarchie›, Anfang des Kapitels über die Taufe.
(10) Johannes 1,13 und 1 Johannes 5,4.
(11) Jona 2,1; Lucas 11,29-30; Matthäus 12,40.
(12) ‹Das Fest der Erscheinung Christi›, GA 209, Dornach, 26.12.1921.
(13) Der Schluss des Kapitels über die Taufe. Geisteshauch: Das griechische ‹pneuma› bedeutet Wind, Atem, Geist, geistiges Wesen, Heiliger Geist und wird in der Bibel sowohl durch die Taube als auch durch den Wohlgeruch symbolisiert; vgl. Johannes 1,32 und 3,8; 2 Korinther 2,14-15; Lukas 3,21-22; Epheser 5,2. ‹Gott der Ursprung› bedeutet bei Dionysius das Eine, das sich durch die Trinität manifestiert.
(14) Dionysius Areopagita, ‹Über die kirchliche Hierarchie›, Kapitel 4 beschreibt die Herkunft der weihenden Kraft des Duftöls.
(15) Römer 6,1-11; Kolosser 2,11-12; Galater 2,19-20; II Timotheus 2,11.