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Corona und biodynamische Landwirtschaft

Die Coronakrise allein als Unfall oder nur als Gesundheitsproblem zu sehen, ist ein Fehler, ein gefährlicher Fehler. Es gibt kein Zurück zum ‹business as usual›. Vielmehr muss man diese Krise als globales systemisches Symptom sehen, als einen GAU. In den letzten zwei bis drei Jahrzehnten sind schon viele ähnliche Krisen nicht ernst genommen worden.


Diese Krise, die jetzt in der allgemeinen Aufmerksamkeit an die Stelle von Klima- und Umweltkrise getreten ist, zeigt eindrücklich viele Schwachstellen unserer modernen Lebensweise: ökologisch, ökonomisch, politisch, finanziell, sozial wie auch geistig. Ein Aspekt dieser Krise ist unsere Beziehung zur Natur, die sich heute immer noch zum großen Teil in der Zerstörung von Lebensräumen und lebendigen Wesen ausdrückt. In verschiedenen Artikeln rufen jetzt Autorinnen und Autoren (1) nach einer neuen Gestaltung unserer Beziehung zur Natur und zur Erde auf. Ich beleuchte hier einige Aspekte aus dem Blick der Landwirtschaft.

Für die Landwirte wie für die Ökologen kommt die Coronapandemie nicht unerwartet. Seit mehr als 20 Jahren gibt es fast jedes Jahr eine neue Seuche bei den Nutztieren: Vogelgrippe, Schweinegrippe – die beide wie Corona auch auf den Menschen übergesprungen sind –, Catharalle-Fieber bei Schafen usw. Fast jede Tierart wurde von einer solchen Epidemie getroffen. Bei den Kulturpflanzen mehren sich in letzter Zeit ebenfalls Viren-, Bakterien- und Pilzkrankheiten (2) besonders im Zuge der Klimaerwärmung. Zum Beispiel die Xylella, die in Süditalien Tausende von Hektaren alter Olivenbäume in kurzer Zeit getötet hat. Es scheint etwas aus dem Ruder zu laufen mit der Gesundheit der Naturwesen. Es zeigt sich eine gesamte Schwächung der Lebewesen, auch bei uns Menschen, vor allem hervorgerufen durch die Umweltverschmutzung.(3) Zugleich steigt die Rate der Epidemien und ihrer Virulenz. Zwischen 1940 und 2000 hat sich die Anzahl der Infektionskrankheiten vervierfacht.(4) Dies zeigt, wie dringend wir ein neues Verständnis des Lebendigen und eine neue Haltung dem Lebendigen gegenüber brauchen. Man wird wahrscheinlich vergeblich nach dem wahren Ursprung der aktuellen Covid-19-Pandemie suchen. Es existieren gegenwärtig mehrere Hypothesen. Sie sind oft ein Spiegel unserer eigenen Sicht auf die Welt.

Die Angst vor der Natur

Einige Expertinnen oder Experten meinen, dass das Virus von einer Fledermaus über ein Schuppentier zu den Händlern und Käufern auf einem Markt in Wuhan, wo viele lebendige Wild- und Nutztiere verkauft werden, geraten sei. Diese Meinung folgt der Vorstellung von der gefährlichen Natur und zweifelhaften chinesischen Nahrungsgewohnheiten. Bereits für die Vogelgrippe gab es ähnliche Hypothesen, die besagen, dass die Wildtiere schuld seien. Viele Berichte und Kommentare behaupteten, sie sei von Zugvögeln aus Asien gebracht worden. Diese Ansicht ist unwahrscheinlich, da der Vogelzug von Norden nach Süden geht, die Vogelgrippe sich jedoch von Ost nach West ausbreitete.

Tatsächlich hat ein großer Teil der Bevölkerung eine unbestimmte Angst vor der ‹wilden› Natur. Diese Angst führt zu Handlungen, um die Natur zu begrenzen, zu beherrschen oder sogar Wesen auszurotten. Ich nehme täglich diese meist unbewusste Haltung in meiner Umgebung, einem Dorf in Frankreich, wahr. Alle Unkräuter werden weggejätet, der Rasen ist geschnitten, auch wenn es keinen Sinn macht, Brombeeren werden ständig ausgerissen. Im Buch ‹Die Angst vor der Natur› beschreibt François Terrasson (5) diese Urangst und schließt, dass wir sie wie ihre positive Kehrseite, die Liebe zur Natur, in uns integrieren sollen. So gesehen ist das Virus Teil einer gefährlichen äußeren Natur, das es wie andere Schädlinge (Insekten, Bakterien, Unkräuter usw.) auszurotten gilt – eine Art von Kriegsführung, wie sie die industrielle Landwirtschaft effizient beherrscht. Der französische Präsident Emmanuel Macron hat die Bevölkerung zu einem Krieg aufgerufen. Wie schaffen wir die Bedingungen, damit wir Menschen und besonders unsere Kinder diese Angst vor der Natur, die oft zu einer
kriegerischen Haltung führt, überwinden?

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Ein großer Teil der Bevölkerung hat Angst vor der ‹wilden› Natur. Diese Angst führt zu Handlungen, um die Natur zu begrenzen, zu beherrschen. Ich nehme täglich diese unbewusste Haltung in meiner Umgebung, einem Dorf in Frankreich, wahr. Alle Unkräuter werden weggejätet, der Rasen ist geschnitten, auch wenn es kein Sinn macht, Brom­beeren werden ständig ausgerissen.

Wenn eine Wunde nicht heilt

Wenn man die Hypothese ‹Fledermaus› weiter untersucht, kommt man dennoch auf sehr interessante Zusammenhänge. Eine Analyse zeigte schon 2010, dass die Verminderung der Biodiversität mit einer Zunahme an Infektionskrankheiten einhergeht.(6) Denn die Reduzierung der Biodiversität ist immer mit der Zerstörung von Biotopen verbunden. In der Folge dieser Zerstörung nähern sich die übriggebliebenen Tierarten den Siedlungsgebieten und Menschen an. Das Beispiel der Lyme-Krankheit (Borreliose), die in den USA aufgetaucht ist, hilft, diese Tatsache besser zu verstehen. Diese Krankheit (7) erscheint in den 80er-Jahren in der Stadt Lyme in Connecticut, verbreitet sich dann sehr schnell in Amerika und ist seit mehr als 30 Jahren auch in Europa anzutreffen. Nach Ansicht von Ökologen hat sich die Borreliose erst im letzten Jahrhundert in Nordamerika im Zusammenhang mit der Massenentwicklung ihres Wirts, der Zecke, stark verbreitet.

Nach der Kolonisation von Nordamerika wurde der Osten des Landes für die Gewinnung von Holzkohle für Industrie und Landwirtschaft stark entwaldet. Am Anfang des 19. Jahrhunderts gab es kaum noch Bäume und Wälder in dieser Region. In den früheren Wäldern lebten Hirsche und ihre ‹Raubtiere›, Kojoten, Pumas u. a. Ohne Wald gab es weniger Hirsche und alle Raubtiere wurden von den Jägern erlegt. Am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts verlassen Industrie und Landwirtschaft die Gegend. Die noch vorhandenen Wälder werden unter Schutz gestellt und breiten sich wieder aus. Die Hirsche und die Wirte der Borreliose, die Ixodes-Zecke, die auf Hirschen und Rehen lebt, kehren zurück. Ohne Raubtiere entwickeln sich die Hirsche ungebremst. Das Opossum, welches früher die Zecken fraß (8) und sie sogar auf anderen Tieren tötete, wurde auch ausgerottet. Es wurde in der Nahrungskette durch Mäuse ersetzt, die aber die Zecken nicht reduzieren können. Viele Menschen bauen sich ein Haus auf dem Land und sind dadurch in nahem Kontakt mit den Wildtieren und auch mit ihren Zecken und dem Bakterium der Lyme-Krankheit. Der Mikrobiologe Norbert Gualde beschreibt die Situation folgendermaßen: Es gab eine Zerstörung des Lebensraums. Dann kann sich der Lebensraum wieder aufbauen, aber die Narbe ist unvollständig geheilt, bleibt offen und eitert.

 


Boxing Cow, Shira Nov, Tinte auf Papier, 2018

Boxing Cow, Shira Nov, Tinte auf Papier, 2018

 

Diese Beschreibung trifft zu: Eigentlich sind alle Lebewesen, auch die Mikroorganismen, Teile (oder ‹Zellen›) von größeren Organismen, Landschaftsorganismen, die selbst Organe des Erdenorganismus sind. Wenn Letztere große Wunden bekommen oder sogar vollständig zerstört werden, werden viele komplexe Naturkreisläufe zwischen Boden, Pflanzen und Tieren auch zerstört. Und die Mikroorganismen, sei es Bakterien, Viren oder sogar Pilzkrankheiten, können sich dann ungebremst entwickeln (‹Eiterungsprozess›) und werden ‹schädlich›, weil sie nicht mehr in einem übergeordneten Landschaftsorganismus eingebunden sind.

So stellt sich eine zweite Frage: Wie können wir die Landschaftsorganismen pflegen und gestalten, sodass Bakterien, Viren, Pilzkrankheiten usw. in Naturkreisläufe eingebunden sind und dadurch weniger schädlich werden?

Eine andere Hypothese für die Entstehung von Covid-19 ist, dass das Virus aus der Massentierhaltung in China stamme. (9) Tatsächlich hat die Haltung von riesigen Massen weniger Nutztierrassen in sterilen Hallen die Empfindlichkeit für Viren und Bakterien in hohem Maße verstärkt. Und genau aus diesem Grund bekommen die ausgebeuteten Tiere massenweise Antibiotika, um jeder Bakterienkrankheit vorzubeugen. Was wiederum die Entwicklung von multiresistenten Bakterien fördert, die in Deutschland jedes Jahr viele Tausende Todesfälle verursachen.(10) Diese Tatsache wird leider nicht annähernd so ernst genommen wie das Covid-19-Virus. Die industrielle Landwirtschaft drückt sich in ähnlicher Weise weltweit in der Entwicklung von Monokulturen (Getreide, Kaffee, Kakao usw.) aus. Der Biologe François Moutou beschreibt, wie diese Landwirtschaft eine Welt für die Verbreitung von pathogenen Keimen schafft: «Auf einer Wiese, auf der etwa hundert Pflanzenarten wachsen, kann ein Virus verloren gehen. Aber auf einem zehn Hektar großen Maisfeld kann es sich, wenn es sich mit den Pflanzenzellen verbinden kann, unbegrenzt ausbreiten.»

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Die Coronakrise zeigt eindrücklich viele Schwachstellen unserer modernen Lebensweise: öko­logisch, ökonomisch, politisch, finanziell, sozial wie auch geistig hat.

Da treffen wir eigentlich auf einen anderen Aspekt des oben beschriebenen Problems: Bei der Massentierhaltung wie bei der Monokultur werden Tiere und Pflanzen wie in einer Fabrik produziert, ganz isoliert von ihrem wesensgemäßen Landschaftsorganismus.

Es gibt weitere Hypothesen wie die des Nobelpreisträgers Luc Montagnier, der meint, dass das Virus aus einem Versuch mit dem AIDS-Virus in dem P4-Labor von Wuhan kommen könnte.(11) Diese Hypothese stößt besonders bei Menschen auf Zustimmung, die das Bild einer bösen ‹Big Pharma› teilen, die mit Elementen der Natur experimentiert.

Ich muss gestehen, dass ich nicht weiß, welche dieser Hypothesen im Fall von Covid-19 zutrifft, aber jede dieser Hypothesen stimmt für einige Epidemien der Vergangenheit. Deshalb ist es notwendig, um solchen Seuchen vorzubeugen, eine Zukunft vorzubereiten, die solche Zustände Schritt für Schritt überwindet. Die biodynamische Landwirtschaft wie auch der agro-ökologische Ansatz eröffnen hier interessante Perspektiven, die ich kurz skizzieren möchte.

Vom Krieg zur Integration

Wie kann man der Natur gegenüber eine neue Haltung entwickeln, statt sich vor ihr, die wir oft als etwas betrachten, das außerhalb von uns liegt, zu fürchten? Das bedeutet, sich weder vor der Natur zu fürchten und sie überall ‹technologisch› zu bezwingen noch sie nur in Reservaten schützen zu wollen, ohne Teil von ihr zu sein. Wie kann also die Dualität Mensch – Natur überwunden werden? Zuerst muss jeder von uns anerkennen, dass er selbst in seiner Leiblichkeit auch Natur ist. Wir sind immer noch daran gewöhnt, leicht zwischen Natur und Kultur zu unterscheiden, aber diese beiden Kategorien sind, wie der Anthropologe Philippe Descola (12) sehr gut zeigt, weder uralt noch universell; sie sind in der Zeit der Aufklärung in Europa entstanden.

Es gibt andere Visionen der Welt, die die Menschen als lebende Wesen wie Brüder und Schwestern und die Erde als Wesen, als Mutter ansehen. Der anthroposophische Ansatz differenziert diese Sicht, indem er zeigt, dass jedes Wesen, Pflanze, Tier oder Mensch, anders ‹in der Welt steht›. Der Geist inkarniert sich bei der Pflanze in der zeitlichen Metamorphose der Organe, beim Tier in der Perfektion der Spezialisierung seiner Organe. Und der Mensch, der sich weniger spezialisiert hat, behält die Möglichkeit, frei über einen Teil seiner geistig-schöpferischen Kräfte zu verfügen. Sie geben ihm die Möglichkeit, aktiv zusammen mit den anderen Naturreichen zu gestalten und Neues in die Welt zu bringen. Diese Sicht, die jedem ‹Naturreich› eine besondere Aufgabe im Ganzen der Natur gibt, ist eine der Grundlagen der biodynamischen Landwirtschaft.

Die Geschichte der Landwirtschaft zeigt, dass der Mensch seit sehr langer Zeit überall auf der Erde die Natur gestaltet und pflegt. Unser romantisches Bild von ursprünglicher Natur auf der einen und menschenbeherrschter Natur auf der anderen Seite ist falsch. Und wir Menschen (13) haben fast alle Landschaften der Erde mitgestaltet, manchmal aus partnerschaftlicher, manchmal aus beherrschender Haltung heraus. In der biodynamischen Landwirtschaft wird eine integrierende Haltung angestrebt. Das heißt, dass auf dem landwirtschaftlichen Betrieb, der als höherer Organismus gestaltet wird, alle Wesen willkommen sind. Jede Pflanze, jedes Tier sollte in einer eigenen, es fördernden Atmosphäre wachsen oder leben können. Jedes Naturwesen, Pflanze oder Tier, kann nie für sich allein existieren: Es ist immer Teil eines größeren Ganzen, das es zu erhalten und zu gestalten gilt. Tiere und Pflanzen sind zwei sich ergänzende Wesen und die Mikororganismen, die jedes höhere Wesen symbiotisch bewohnen, gehören auch als Ergänzung dazu. Es ist sogar so, dass die Pflanzen, wenn sie zum Beispiel ihre zweite Hälfte (die Tiere) nicht finden, weniger gut gedeihen.

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Wir müssen anerkennen, dass wir selbst in unserer Leiblichkeit auch Natur sind. Wir sind daran gewöhnt, zwischen Natur und Kultur zu unterscheiden, aber diese beiden Kategorien sind weder uralt noch universell; sie sind in der Zeit der Aufklärung in Europa entstanden.

Das Ideal des landwirtschaftlichen Organismus ist eine nach innen stark differenzierte Einheit. Dieser Organismus ist eine große Herausforderung, aber auch ein spannender Innovationsweg – vor allem für die Landwirte, die eine Monokultur auf biodynamische Wirtschaftweise umstellen wollen, wie z. B. gegenwärtig viele Winzer oder Obstbauern. Die Landwirte pflegen oder schaffen sogar, wenn ein solcher nicht existiert, für jede Tiergruppe wie Vögel oder besonders auch Wildtiere den entsprechenden Lebensraum.

In Bezug auf die Mikroorganismen erwähnt Rudolf Steiner (14), dass es eine Beziehung zwischen den Pilzkrankheiten und anderen Mikroorganismen auf der einen und Auen und feuchten Wiesen auf der anderen Seite gibt. Deshalb sind solche Landschaftselemente auf jedem Hof wichtig, um Mikroorganismen, Bakterien und Pilzen, die Krankheiten verursachen, einen Platz zu schaffen. Eine integrative Sichtweise! Üblicherweise wäre man bemüht, alle Viren, Bakterien usw. zu vernichten. Man kann sich fragen, ob es nicht einen Zusammenhang gibt zwischen der Zerstörung von bis zu 90 Prozent der Feuchtbiotope in Europa und der Zunahme der Pilz- und Infektionskrankheiten. Das Prinzip, allen Wesen einen Platz zu geben, erhöht die Vielfalt des Lebens und fördert die Herstellung von ‹naturintimen Beziehungen› im Lebenszusammenhang zwischen verschiedenen Wesen. Diese Haltung ist am Anfang der biodynamischen Umstellung für viele Landwirte schwierig zu akzeptieren. «Ich soll Pilzen, Bakterien und anderen Mikroorganismen auf meinem Hof Platz geben, wo ich früher in der konventionellen Landwirtschaft so viel Mühe hatte, sie wegzukriegen mit vielen Giften (Pestiziden, Fungiziden und Antibiotika)?» Genauso wichtig wie die neue Haltung ist die radikale Änderung der Einstellung der Natur gegenüber. Um dies zu erreichen, muss man sich für alle diese Wesen interessieren. Von einer propagierten ‹Kriegshaltung› gehe ich zu einer ‹Willkommenshaltung› über. Alle Wesen dürfen auf meinem Hof einen Platz haben. Diese Intention schafft eine andere Atmosphäre auf dem Hof, die direkt spürbar wird auf der seelischen Ebene. «Man fühlt sich gut hier!», sagen die Besucher, ohne genau beobachten zu können, woran es liegt. In einem Beitrag zeigt der Arzt Thomas Hardtmuth (15), wie Viren als atmosphärische Wesen stark mit der seelischen Ebene leben. Eine Angststimmung fördert die Viren und schwächt gleichzeitig unsere Immunkräfte. Umgekehrt könnte eine ‹integrierende› Haltung der Natur gegenüber und das konkrete Schaffen von positiven ‹astralischen› Atmosphären einiges zur Vorbeugung ‹böser› Viren beitragen.

Die Landschaft gestalten

Aus diesem Prinzip wird die Landschaft anders gestaltet. Statt einer Trennung zwischen Produktionsflächen und Naturschutzgebieten wird die Landschaft gegliedert und strukturiert, wo ‹Natur› (im Sinne von spontan am Ort wachsend) und Kultur (im Sinne von vom Menschen gepflanzt oder eingeführt) sich gegenseitig durchdringen. Das versucht jeder biodynamische Landwirt mit seinem landwirtschaftlichen Organismus, indem er Pflanzen und Tiere zusammen ‹kultiviert›, sodass sie ihre Potenzialität entwickeln – das heißt Lebensmittel produzieren – und in Würde leben können. Zusammen mit der Erde sollen sie einen Kreislauf schaffen, der Fruchtbarkeit entwickelt.

Ein weiteres wesentliches Prinzip der Gestaltung ist die Pflege von Übergangszonen (oder das Anlegen von solchen, wenn sie fehlen). Diese Biotope (Hecken, Waldränder, Ufer, Wegraine usw.) bieten höchste Biodiversität und spielen eine ähnliche Rolle wie die Zellmembranen in unserem Körper. Sie sind Wahrnehmungs- und Verbindungsorgane zwischen den verschiedenen Elementen der Landschaft. So wird Schritt für Schritt der landwirtschaftliche Betrieb als resilienter Organismus gestaltet.

 


Freigebunden (Engel), Shira Nov, Tinte auf Papier, 2018

Freigebunden (Engel), Shira Nov, Tinte auf Papier, 2018

 

Peripherisch-atmosphärisch wahrnehmen und handeln

Es gibt noch einen weiteren Aspekt zu beachten. Die letzten großen Krisen, der Klimabruch mit Erwärmung und Luftverschmutzung sowie Covid-19, haben etwas gemeinsam: Sie erscheinen nicht zentriert-punktuell. Sie kommen ‹atmosphärisch› aus der Umgebung. Physiologisch betreffen sie unsere Atmungsorgane, die uns rhythmisch mit der Welt verbinden. Deswegen sind sie auch eine Herausforderung für unser kausales Denken, das immer linear in Ursache und Wirkung denkt. Kann man atmosphärisch und rhythmisch denken und handeln?

Schon am Anfang des letzten Jahrhunderts hatte Rudolf Steiner von dem peripherischen Ich gesprochen mit dem Zitat: «Das Ich des Menschen lebt in der Gesetzmäßigkeit der Dinge.» Was heißt das konkret für die landwirtschaftliche Arbeit? Kann ich mein Ich weniger zentriert erleben, vielmehr auch peripherisch – und daraus handeln?

Eine Anekdote dazu. Ich habe vor Kurzem in Korsika einen Winzer besucht, der auf biodynamischen Anbau umstellen wollte. Er erzählte von seiner großen Überraschung, als der biodynamische Berater, statt ganz konkret auf den Boden und die Reben zu schauen und Fragen zu stellen, zuerst gar nichts sagte und einfach durch die Parzellen schritt. Danach verstand der Winzer, dass der Berater die Atmosphäre des Ortes wahrnehmen wollte. Verglichen mit unserem Sehen ist Riechen ein atmosphärischer Sinn par excellence, der viel mehr analytisch fokussiert wahrnimmt. Üben wir uns darin, die Stimmungen stärker zu spüren oder zu riechen!

Damit können wir auch besser die biodynamischen Spritzpräparate Hornmist und Hornkiesel verstehen, die in kleinen Mengen in Wasser gerührt und entweder auf dem Boden oder in der Luft fein gespritzt werden. Es sind atmosphärische Präparate, die peripherisch – man könnte auch ätherisch sagen – wirken. Deswegen sind am Anfang der Umstellung einige Landwirte enttäuscht, weil sie oft eine lokal sichtbare Wirkung erwarten. Sie müssen atmosphärisch wahrnehmen lernen. Es kann auch sein, dass die Wirkung erst in der Qualität der Produkte wahrgenommen wird. Ein Sommelier schreibt über die biodynamischen Weine: «Sie haben etwas Eigenartiges, sie geben mir Emotionen!» So arbeiten wir schon lange ‹peripherisch› in der biodynamischen Landwirtschaft, oft ohne es wirklich realisiert zu haben.

Damit kommen wir auf ein Prinzip der Biodynamik: Die Anwendung der Präparate und lokaler angepasster Maßnahmen, die ganzheitlich die Gesundheit und die Resilienz der Pflanzen fördern, indem sie sie stärker mit dem Standort – Erde und Kosmos – und mit ihrer Identität (Typus) verbinden. Solche Pflanzen sind dann die Grundlage der Gesundheit der Tiere und des Betriebs. Es gibt Menschen, die merken, wie ein solcher biodynamischer Hof eine Ganzheit bildet: Die eigene Resilienz – die Stimmung – ist besser, die Gesundheit wächst und auch die Kapazität, sich von Katastrophen zu erholen. Eine aktuelle Studie zeigt, dass biodynamisch gepflegte Reben eine bessere Resistenz gegen den falschen Mehltau haben als konventionell angebaute.

Diese Anwendungen sind Beispiele für weitere Entwicklungen, die die Herausforderungen der Zeit von uns verlangen. Wie können solche atmosphärischen Prinzipien im Umgang mit der Natur noch breiter angewendet werden, um unsere Landschaften, das ‹Gesicht der Erde›, zu pflegen? Eine ganzheitliche Gesundung unserer Landschaftsorganismen würde einen großen Beitrag liefern, um die verschiedenen Umwelt- und Gesundheitskrisen unserer Zeit zu überwinden.


Titelbild: Aufgang, Shira Nov, Tinte auf Papier, 2018

(1) Georg Soldner, Wie leben wir zusammen? In: Das Goetheanum, 3. April 2020, S.10.
(2) Mehrung Viren-, Bakterien- und Pilzkrankheiten.
(3) Soraya Boudia und Nathalie Jas, Gouverner un monde toxique.Versailles 2019.
(4) La dépêche technique, Nov. 2019.
(5) Francois Terrasson, La peur de la nature. Sang de la terre. Paris 1988.
(6) Pierre Le Hir, Moins d’espèces, plus de malades infectieuses. In: Le Monde, Paris, 15.12.2010, S. 4.
(7) Norbert Gualde, Comprendre les épidémies. La coévolution des microbes et des hommes. Les empêcheurs de penser en rond. Paris 2006.
(8) How opossums help fight ticks and lyme disease.
(9) GRAIN.
(10) Tödliche Keime: das bringt uns noch um. In: Die Zeit, 20. November 2014.
(11) Montagnier in CNEWS vom 17.4.2020.
(12) Philippe Descola, Par-delà nature et culture. Gallimard Folio, Paris 2005.
(13) Andreas Suchantke, Partnerschaft mit der Natur. Stuttgart 1993.
(14) Rudolf Steiner, Geisteswissenschaftliche Grundlagen zum Gedeihen der Landwirtschaft. Landwirtschaftliche Kurs. Dornach 1985, GA 327, S. 189.
(15) Thomas Hardtmuth, Tiermast, Mikroorganismen und die Biologie der Moral. In: Die Drei, 3/2015, S. 11.

 


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Buch Die Verantwortlichen der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft haben aus den Blickrichtungen der einzelnen Fachsektionen Beiträge zum Verstehen der Coronakrise und Anregungen zum Handeln zusammengestellt. Das daraus entstandene Buch wird im Juni veröffentlicht. Dieser Beitrag ist zuerst für dieses Buch geschrieben worden.

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