Der Publizist Wolfgang Müller vermittelt anthropsophische Inhalte und Weltanschaung und baut Verständnisbrücken.
Als Publizist schreibt Wolfgang Müller, bis 2020 Redakteur für Zeitgeschichte beim Norddeutschen Rundfunk, immer wieder über anthroposophische Themen. Insbesondere in Artikeln für die ‹taz› und die ‹Zeit› setzte er der verbreiteten Polemik, die keinerlei Versuch des Verstehens unternimmt, andere Gesichtspunkte entgegen. Er hat selbst einen langen Weg zur Anthroposophie zurückgelegt. Gerade dadurch vermag er es, in einer ebenso distanzierten wie engagierten Art anthroposophische Inhalte so zu vermitteln, dass die Falle der Abgrenzung nicht zuschnappt. In einem Buch greift er jetzt diese Themen umfassender auf. Wir drucken Ausschnitte aus der Einleitung und den aphoristischen Texten.
Wenn bedeutende Zeitgenossen mehr oder weniger unbeeindruckt an Rudolf Steiner vorbeigingen – sollten wir ein Jahrhundert später zu anderen Ergebnissen kommen? Dieses Buch sagt, in aller Vorsicht, Ja. Vorsicht, weil ja das neuzeitliche Weltverständnis, über das die Anthroposophie in vieler Hinsicht hinausgehen möchte, keine kulturelle Laune ist. Es ist über Generationen erkämpft und wurde (etwa auf dem Weg von Newton zu Einstein) vielfach revidiert und erweitert, mit anderen Worten: Es hat sich bewährt und hat, besonders auch durch seine technischen Anwendungen, eine bis in den Alltag reichende Überzeugungskraft. Dem etwas entgegenzusetzen ist keine Kleinigkeit. Es verlangt mehr als den Hinweis auf die menschlichen und ökologischen Schattenseiten des neuzeitlichen Weges und mehr als das Winken mit vermeintlich angenehmeren Alternativen. Es verlangt den Zugang zu einer Weltanschauung, die umfassender, relevanter und wirklichkeitsgemäßer ist. Dabei geht es nicht darum, das heutige Weltbild quasi nach oben, um eine ‹höhere Welt› zu erweitern, so wie dies spirituellen Lehren gern unterstellt wird. Es ist eher so, dass dieselbe Welt anders angeschaut und tiefer verstanden wird.
Was wir im Alltag sehen, was auch die Wissenschaft genauer beschreibt, ist nicht falsch. Aber es ist nur eine erste Schicht, hinter der sich Weiteres und Wesentliches verbirgt. Wird das nicht verstanden, ist das etwa so, als ob man meinte, einen Menschen durch bestimmte Merkmale erfassen zu können – Größe, Sprache, Wohnort –, ohne zu begreifen, dass das Entscheidende erst jenseits davon beginnt.
Dass die heutige Welt einem Phänomen wie der Anthroposophie skeptisch begegnet, dass sie auch manche Fragen an ihren Gründer hat, ist ganz natürlich. Dass sie sich aber mit dem, was hier als großer Impuls in die Welt kam, gar nicht auseinandersetzt, dass sie sich in ihrer Wahrnehmung auf ein paar Randaspekte kapriziert, ohne den ‹Grundcharakter des Ganzen› überhaupt von Ferne zu erkennen, darin kann man eine Tragödie sehen. Das Wort ist nicht zu groß. Denn die Anthroposophie ist alles andere als eine intellektuelle Spielerei oder ein Versuch, es sich in der kühlen Moderne wieder spirituell gemütlich zu machen. Im Kern will sie nichts anderes als die volle Wirklichkeit in den Blick nehmen, auch die Seiten, die in der Neuzeit ausgeblendet wurden.
Meine Eltern hatten Medizin studiert, ihre akademische Prägung war die einer wissenschaftlichen Nüchternheit. Ich selbst kam durch einen Freund mit der Anthroposophie in Berührung. Es gab aber wenig, das mich dorthin zog. Zwar hatte ich, nach einer schwungvollen agnostischen Phase, eine innige Beziehung zu den großen spirituellen Traditionen entwickelt, von der Bhagavad Gita bis zur Bibel, von Lao Dse bis Meister Eckhart. Mit Steiner aber konnte ich, wenn ich einmal in seine Werke hineinlas, wenig anfangen. Allein schon die Selbstverständlichkeit, mit der er von ‹Geist› oder ‹Seele› sprach, erschien mir verdächtig und etwas gestrig. Erst mit 57 Jahren kam eine eigentümliche Wendung. Ich hatte für einen Artikel eine gewisse historisch-politische These ausgearbeitet und eines Morgens unversehens bemerkt, dass meine Gedanken im Grunde auf das hinausliefen, was Steiner ‹soziale Dreigliederung› nannte. Ich griff also doch wieder ins Regal – und lese seitdem praktisch täglich Steiner.
Mitunter kann die Anthroposophie wie eine ungeheure Landschaft wirken – und was dieses Buch unternimmt, sind nur kleine Exkursionen. Sie beginnen mit Aphorismen zur Anthroposophie und wenden sich dann der faszinierenden Eigenart menschlicher Lebensgeschichten zu, insbesondere auch der von Rudolf Steiner selbst. Anschließend geht es um die zentrale Frage, warum die Anthroposophie so deutlich von der Hauptrichtung heutiger Naturwissenschaft und Philosophie abweicht. Weitere Themen sind die notorischen Vorwürfe, Steiners Werk zeige nationalistische und rassistische Züge, die vieldiskutierte Nähe und Fremdheit von Religion und Anthroposophie und schließlich die bis heute völlig unverstandenen politischen Gesichtspunkte einer tieferen Weltsicht. Es sind alles nur Versuche. Wenn die Anthroposophie ein Lesen der Welt erstrebt, dann erstrebt dieses kleine Buch ein Lesen der Anthroposophie.
Wo es wehtut, sind wir richtig
Aphorismen aus Wolfgang Müllers Buch, einer Auseinandersetzung mit den Phänomenen der Anthroposophie an der Schwelle zwischen Innenblick und Außenperspektive. Es erscheint in diesen Tagen im Info3-Verlag.
Schwierige Selbstbehauptung. – In einem übertragenen Sinn geht es den Anthroposophen wie einst den Juden im babylonischen Exil, die sich den Spott der Umgebung anhören mussten: «Wo ist denn ihr Gott?» (Psalm 115) Sie hatten eben keine so vorzeigbaren Götter und Götterbilder wie die anderen, sondern beteten zu einem unsichtbaren Gott. Ungefähr so steht eine heutige Geist-Behauptung, bei manchen wohl auch Geist-Erfahrung, zu den vorzeigbaren Laborgöttern unserer Tage.
Was tun wir da? – Wir wundern uns darüber, wie verrückt das ist: dass wir uns tagelang, eigentlich vom Frühstück bis in die Abendstunden, über nichts anderes als die Anthroposophie und Rudolf Steiners Weg zu ihr unterhalten. Als ob es kein anderes Thema in der Welt gäbe. Im Grunde aber ist unser Thema nicht die Anthroposophie, sondern der veränderte Blick auf die Welt, den die Anthroposophie zugänglich macht. Wir versuchen in neuen, gehaltvolleren Formen über die Welt zu sprechen. Kein Thema könnte größer sein.
Licht, verkraftbar. – Wenn es im schleppenden Gang der Geistesgeschichte einmal einen außerordentlichen Impuls gibt, ein Ereignis erster Ordnung, dann erzeugt das immer allerhand Sekundär- und Tertiärphänomene: in Gestalt von Menschen, die das Ereignis zu verstehen versuchen, es in seiner Größe und Bedeutung zu erklären und zu vermitteln versuchen. Diese Leute braucht man auch, diese ganze zweite Reihe der Apostel, Interpreten und Kirchenväter. Es sind nur Monde, die von fremdem Licht leben. In ihr Licht kann man aber manchmal leichter schauen als in die Sonne selbst.
Abendstimmung. – Die Wege sind so weit! Die inneren wie die äußeren! Es gibt wohl Menschen, die in einem bestimmten Leben, wie Mose, das Gelobte Land noch sehen, aber nicht mehr betreten.
Küchengespräch, neuzeitlich. – Wir unterhalten uns über den heutigen gesellschaftlichen Umgang mit Krankheit und Tod und sind uns einig: Da ist vieles aus dem Lot geraten, es herrscht halb Panik, halb Sicherheitswahn, was eigentlich verschiedene Seiten desselben Phänomens sind. Die junge Frau hat einen sehr kritischen Blick auf die heutigen Mentalitäten, da fällt die Einigkeit leicht. Ich flechte ein, dass sich der Blick auf das Thema noch einmal verändert, wenn man die Dinge im Lichte von Rudolf Steiners Anschauung sieht, dass jede Individualität eine lange Reihe an Erdenleben durchläuft und das einzelne Leben sich als Teil eines großen Kontinuums darstellt. Aber da möchte sie nicht mitgehen. Da vermute sie eben, sagt sie, dass die Menschen den kalten Tatsachen nicht ins Auge sehen und dem Gedanken ausweichen wollten, nicht mehr als ein einziges kleines Leben zu haben. Mir geht durch den Kopf: Der moderne Mensch möchte vieles sein, nur nicht leichtgläubig. Auch schöne Angebote weist man, wenn ihre Fundierung fraglich erscheint, tapfer zurück. Als naiv dazustehen, das ist wohl heute die größte Kränkung. Gerade die Besten, Ehrlichsten wollen sich die Dinge nicht schönreden. Aus anthroposophischer Perspektive müsste man wohl sagen: Es gibt eine Wahrheitsliebe, die an einem bestimmten Punkt der Erkenntnis der Wahrheit entgegenstehen kann. Das ist die kulturelle Schwelle, an der wir stehen.
Dass sich die heutige Welt in ihrer Wahrnehmung auf ein paar Randaspekte der Anthroposophie kapriziert, ohne den ‹Grundcharakter des Ganzen› überhaupt von Ferne zu erkennen, – darin kann man eine Tragödie sehen.
Gemütlich ist es nicht. – So wie es kulturelles Christentum gibt und kulturellen Islam, also ein milieuhaftes Hineinwachsen in diese Traditionen, ohne persönliche, ins Letzte gehende Eroberung und Entscheidung, so gibt es wohl inzwischen auch kulturelle Anthroposophie. Kraftlos sind sie alle. Denn die Kraft kann nur aus einem scharfen Prozess innerer Auseinandersetzung und Aneignung hervorgehen, der die Dinge ganz neu vor sich stellt.
Schlafen gegen rechts. – Ich muss gestehen, dass mir diese Steiner-Aussage sofort einleuchtete: dass der Mensch «eigentlich nur zur Hälfte ein soziales Wesen ist, dass er zur anderen Hälfte ein antisoziales Wesen ist». Und es kommt noch schlimmer. Unglückseligerweise, so Steiner, dominierten gerade im Tagesbewusstsein die antisozialen Impulse – «Nur wenn wir schlafen, stellen wir ein ungeschminktes, richtiges Verhältnis von Mensch zu Mensch her.» Versöhnlich fand ich aber die Fortsetzung: «[…] dass man gut chauvinistisch national sein kann im Wachen – wenn man im Schlafe ist, wird man gerade unter diejenigen Menschen versetzt, ist man mit denen zusammen, namentlich mit ihrem Volksgeist, die man im Wachen am allermeisten hasst. Dagegen lässt sich schon nichts machen.» Insofern, allen Reaktionären eine geruhsame Nacht!
Wofür die Anthroposophie gebraucht wird.– Es gibt in der Anthroposophie manche schwer vermittelbaren, in den heutigen Diskursen nicht leicht zu vertretenden Aspekte. Und man kann versucht sein, diese unbequemen Aspekte in den Hintergrund zu rücken oder nur intern zu verhandeln. Dies aber ist gerade der falsche Reflex. Jedenfalls wenn man dem Gedanken folgt, dass die Anthroposophie genau mit dem, worin sie fremd in ihrer Zeit steht, ihren Nutzen und ihren Auftrag in den Blick bekommt: die Schwachpunkte unserer Epoche anzusprechen, die zugleich ihre Entwicklungspunkte sind. Wo es wehtut, sind wir richtig. Anthroposophie ist nicht mit dieser, sondern mit der nächsten Epoche befreundet.
Selbstermahnung. – Wie groß ist doch die Gefahr, dass über all den Worten und Wellenbewegungen das Entscheidende unhörbar bleibt – «die absolute Stille und Lautlosigkeit der geistigen Welt».
Buch Wolfgang Müller Zumutung Anthroposophie Info3-Verlag. Erscheint im November 2021.
Grafik: Fabian Roschka
Sehr geehrte Redaktion des Goetheanums,
der Versuch mit Ihrem Artikel über das Buch:“Zumutung Anthroposophie “ von Wolfgang Müller die anthroposophische Weltanschauung wieder verständlicher in der Öffentlichkeit darzustellen freut mich. Jedoch sind für mich bestimmte Anspielungen unverständlich und realitätsfern. Dennoch wünsche ich allen Beteiligten alles Gute und eine gelungene Kommunikation intern wie extern.
Mit freundlichen Grüßen
Fiona Schlegel
Liebe Frau Schlegel,
Besten Dank für Ihren Kommentar. Teilen Sie uns gern hier in den Kommentaren oder in einem Leserbrief mit, was Sie mit Ihrer Kritik genau meinen.
Herzliche Grüsse aus der Wochenschrift!