Was geschieht, wenn ein Ton erklingt? Welche Welt öffnet sich, wenn man vom Hören zum Lauschen und noch weiter zum Hören des Unhörbaren voranschreitet? Das untersucht Steffen Hartmann und findet dabei zwölf Phasen.
Als Musiker und als Hörer von Musik gehen wir ständig damit um: Wir produzieren ihn, wir spielen ihn, wir hören ihn, wir genießen ihn, wir empfinden ihn ganz innerlich und intim – den Ton und den Zusammenklang der Töne. Doch nicht nur im Konzertsaal begegnen wir der Welt der Töne. Das Tönende umgibt uns ständig. Die Vögel zwitschern, die Kirchenglocken läuten, und bei jedem Kaufhausbesuch werden wir berieselt von Hintergrundmusik. Musik kann zutiefst beglücken; sie kann aber auch nerven und einem den Schlaf rauben. Das Erleben der Töne reicht also vom ergreifenden und beglückenden Konzertbesuch bis hin zur nächtlichen Ruhestörung, bei der das Tönende einem bedrohlichen oder störenden Geräusch gleicht. Doch was ist eigentlich ein Ton seinem Wesen nach? Diese Frage wird selten gestellt. Auch Musiker nehmen in der Regel die Existenz ihres ‹Materials›, das Vorhandensein und die Eigenart der Töne, fraglos hin. Einer Tonart oder einer Melodie schreiben wir einen gewissen Ausdruck zu, sprechen von einer bestimmten Atmosphäre oder einem Charakter. Der einzelne Ton dagegen scheint merkwürdig nackt und neutral zu sein. Dies ist insofern erstaunlich, als beispielsweise die einzelnen Farben, das ‹Material› des Malers, unmittelbare Empfindungen wachrufen und Gegenstand zahlreicher Untersuchungen sind, so zum Beispiel in Goethes Farbenlehre, in der er die sinnlich-sittliche Wirkung der Farben beschrieben hat. Die Wirkung und den Ausdruck der einzelnen Farben wird wohl kein Mensch ernsthaft bestreiten, wenn auch vielleicht etwas verschieden charakterisieren und werten.
Doch wie verhält sich das bei den Tönen? Kann man ihre Eigenart und Qualität auch unmittelbar erleben und beschreiben? Gibt es eine spezifische C-Qualität im Unterschied zu einer D-Qualität oder E-Qualität? Ist die Eigenschaft eines Tones an eine bestimmte Tonhöhe gebunden? Und schließlich: Was ist überhaupt ein Ton? Ist der Ton ein rein akustisches Phänomen? Die bloße Schwingung der Luft, die gemessen werden kann? Oder handelt es sich nicht vielmehr beim ‹wirklichen› Ton um ein innerlich-seelisch Erlebtes? Oder, noch anders gewendet, ist das ‹eigentliche› Wesen des Tones nicht eine rein geistige Qualität, die für sich besteht, unabhängig von ihrem physischen Erklingen?
Hörversuche zum einzelnen Ton und zu den Phasen seines Erklingens
Wird nach dem Ton, nach Wesen und Erscheinung des Tönenden gefragt, ergeben sich Fragen über Fragen. Man stößt zunächst wie gegen eine unsichtbare beziehungsweise unhörbare Wand, und eine Selbstverständlichkeit nach der anderen löst sich in Luft auf. Welcher Musiker wüsste schon auf die Frage nach der spezifischen Qualität des Tones C spontan eine Antwort zu geben, geschweige denn anzugeben, wie sich ein Fis im Unterschied zu einem Gis anfühlt? Auch die Begabung der Synästhesie hilft hier nicht wirklich weiter; denn die Verbindung bestimmter Töne mit bestimmten Farben führt ja nur umso deutlicher auf die Frage zurück, warum wir die unterschiedliche Qualität der Farben unmittelbar empfinden, eine vergleichbare Erlebnisevidenz in Bezug auf die Töne zunächst aber nicht auffindbar ist.
Um an dieser Erlebnis- und Erkenntnisgrenze weiterzukommen, tut Beschränkung not. Zunächst soll in einem ersten Schritt das Erklingen und Verklingen eines Tones in Raum und Zeit untersucht werden. Diese Untersuchung kann dann als Grundlage für die weitere Klärung der spezifischen Eigenqualitäten der Töne dienen.
Am Institut MenschMusik Hamburg machten wir über Jahre hinweg im Rahmen einer Forschungsgruppe verschiedene Experimente zum Tonerleben.[2] In einer Reihe von Hörversuchen widmeten wir uns intensiv den verschiedenen Phasen des Erklingens und Verklingens eines einzelnen Tones. Wir versuchten, die einzelnen Phasen eines Tonverlaufes – die zum Teil sehr schnell vergehen und ineinander übergehen – so stark wie möglich zu erleben und so differenziert wie möglich zu beschreiben. Es zeigte sich dabei zunehmend, dass für das Hören eines Tones und ein differenziertes Erleben seines Phasenverlaufs die Stille vor dem Ton sowie die Stille nach dem Ton ebenso essenziell sind wie die eigentlichen akustisch hörbaren Phasen. Das folgende Erlebnisprotokoll fasst einige Ergebnisse dieser Versuche zusammen und gliedert das Erklingen eines Tones in insgesamt zwölf Hörphasen:
Die Stille davor gliederte sich nach einiger Zeit des hörenden Übens und des übenden Hörens in drei Phasen. Der allererste Anfang könnte beschrieben werden mit den Worten: Ich schaffe einen konzentrierten Hörraum. (1) Die Aufmerksamkeit fokussiert sich auf ein zu Hörendes; dieses ist noch nicht weiter bestimmt, es könnte ein gesprochenes Wort, ein Geräusch oder eben ein Ton sein. Dieser Höranfang ist das allgemeine Moment in der Stille davor.
In einem zweiten Hörschritt öffne ich mich nun ganz bewusst für Tönendes. (2) Phase 1 und 2 zu unterscheiden, wird einem ungeübten Hörer wohl kaum gelingen; sie werden ihm eher als ein kurzer Augenblick vorkommen. Diese zweite Hörphase möchte ich als das besondere Moment der Stille davor bezeichnen. Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass ich in meiner Hörintention anderes, zum Beispiel Geräusch und Wort, ausschließe. Ich will einen Ton hören.
Die dritte Phase beginnt, wenn ich nicht nur irgendeinen Ton vorhöre, sondern diesen einzelnen, zum Beispiel den Kammerton a. (3) Für Menschen ohne absolutes Gehör kommt es bei diesem Versuch nicht darauf an, den innerlich vorgehörten Ton dem Namen nach zu kennen, sondern ganz konkret einen bestimmten einzelnen Ton in die Stille davor ‹hineinzuhören›. Ich nenne diese dritte Phase das Moment der Einzelheit in der Stille davor. –
Bevor ich die vierte Phase beschreibe, möchte ich innehalten und darauf aufmerksam machen, dass diese Dreigliederung der Stille vor dem Ton, die ich hier nur andeuten kann, das Ergebnis intensiver meditativer Hörbemühungen ist und dass sie wohl erst gefunden werden kann, wenn man den hier beschriebenen Hörversuch immer wieder als Ganzes durchlaufen hat. Die vierte Phase bringt einen deutlichen Einschnitt. Es erfolgt ein Ruck, der Überwindung kostet; der Ton wird physisch zum Erklingen gebracht (4), beispielsweise durch das Anschlagen einer Stimmgabel. Phase 4 möchte ich die Willensintention nennen, die Stille davor zu durchbrechen. Es ist der Wille zum Ton, der in Aktion übergeht und sich nicht mit einem rein innerlichen Vorhören begnügt.
Die nächste Phase ist durch ein kurzes Einschwingen des Tones im jeweiligen Material gekennzeichnet. (5) Dieses Einschwingen im Material hat Geräusch-Charakter: der Schlag des Klavierhammers auf die Saite, die Berührung von Bogen und Geigensaite, die Berührung der schwingenden Stimmgabel mit einer Tischplatte etc. Diese fünfte Phase ist dasjenige, was wir als Musiker möglichst unhörbar machen wollen: das mit der Tonerzeugung einhergehende Nebengeräusch. Im Rahmen unseres Experimentes interessiert uns diese fünfte Phase natürlich genauso wie alle anderen.
Dann beginnt der Ton sich klanglich zu entfalten. (6) Dies ist eine längere Phase des Erklingens des Tones. Der Ton breitet sich im Raum aus. Ich höre den Ton außer mir als akustisch real Klingendes.
Diese Phase geht früher oder später über in das Erlebnis: Der Ton klingt in mir. (7) Der Ton breitet sich in mir aus, findet in mir eine Resonanz. Gleichzeitig erklingt er aber auch noch akustisch, ‹draußen›. Das heißt mit anderen Worten, Phase 6 und Phase 7 gehen ineinander über, sind aber deutlich voneinander unterscheidbar (außen/innen), obwohl sie sogar eine Zeit lang parallel zueinander verlaufen. Phase 8: das Verklingen des Tones. Das Ton-Ende ist diffus, nicht eindeutig fassbar, sehr leise bis unhörbar. Der mittlerweile sehr leise Ton verschwindet irgendwann. Jetzt klingt der Ton nur noch in mir.
Es gibt dabei eine kurze Phase, in der der Ton in meinem Ohr anschwillt und abschwillt, das Phänomen des physiologischen Nachklangs (9), vergleichbar dem Nachbild beim Farberleben. Diese Phase ist oft schwer zu erhaschen; sie kann aber gefunden werden.
Dann beginnt die Stille danach. Sie ist wieder in drei Phasen erlebbar, ähnlich der Stille davor, und doch ganz anders. Phase 10: In der nun eingetretenen äußeren Stille klingt der Ton in mir nach. (10) Ich kann den Ton innerlich hörend bewusst weiterverfolgen, ihn sozusagen innerlich weitersingen. Diese Phase kann intentional verstärkt werden zu dem Erlebnis: ‹Der Ton klingt und strömt in mir.› Dann kommt ein Moment der Loslösung: Ich lasse den Ton los. (11) Genauso muss ich aber auch sagen: Der Ton lässt mich los. Ich spüre, dass der Ton in mir war, mit mir verbunden war. Schließlich bleibt eine konzentrierte nachhörende Verfassung im Allgemeinen. (12) Ich höre nicht mehr jenen bestimmten Ton, aber die Hörintention als solche ist noch da. Ich spüre, ich bin ein anderer geworden, nachdem dieser Ton in mir war. Mit anderen Worten, die Stille danach in ihrem letzten Stadium ist genauso allgemein wie die Stille davor in ihrem ersten Stadium, aber sie ist im Unterschied zu dieser ‹erfüllter› und ‹gesättigter›. Es wird im wiederholten Durchlaufen dieser zwölf Phasen immer deutlicher, dass sich die Stille davor und die Stille danach wie spiegelbildlich zueinander verhalten, wie Inkarnation und Exkarnation des Tones.
Auswertung der Versuche
Die beschriebenen zwölf Stufen sind durch wiederholtes übendes Hören (Meditieren) ins bewusste Erleben gebracht worden. Methodisch wurde folgender Zweischritt angewendet: zuerst so intensiv und hingegeben wie möglich hören und erleben. Und dann, in einem zweiten Schritt, das ursprünglich Erlebte so differenziert wie möglich beschreiben. Durch diese Erkenntnismethode erübrigen sich Spekulationen und Diskussionen; denn jedes Erlebnis ist als Erlebnis wertvoll und ‹richtig›. Und jede Erlebnisbeschreibung sollte das Erlebte so rein und differenziert wie möglich wiedergeben (reflektieren) und damit für den ursprünglich Erlebenden transparent und für Außenstehende nachvollziehbar machen. Die Erlebnisbeschreibung, die sich aus einem nachträglichen Beobachten speist, ist also im Idealfall keine ‹von außen› hinzugefügte Interpretation, sondern eine differenzierte Bewusstmachung des ursprünglichen Erlebens.[3]
Durch ein solches Üben erfahre ich nicht nur zwölf verschiedene Phasen des einzelnen Tones, sondern ich erfahre auch zunehmend etwas über mich selbst als Hörenden. Kommt es nämlich wirklich zu einem intensiven Erleben des beschriebenen Phasenverlaufs, verändere ich mich selbst als Hörer beziehungsweise ich nehme auch an mir und meiner Organisation Veränderungen und Entwicklungen wahr. Schon die Stille davor kann nicht einfach passiv wahr- und aufgenommen werden; ich muss sie erzeugen, um sie wahrnehmen zu können. Ich erzeuge einen Hörraum, in dem der ganze Versuch überhaupt erst stattfinden kann. Diese schaffende Hörgeste könnte als Lauschen bezeichnet werden. Dieses Lauschen kann als eine Hörbewegung erlebt werden, die zwar von den Ohren aus-, aber über die Ohren hinausgeht, in den hinteren Raum eintaucht und sich empfangen-wollend nach vorne hin öffnet – so als ob mir riesige Ohren wachsen würden, die sich wie zu unsichtbaren Schüsseln aufspannen.
Das Erklingen des Tones wird, solchermaßen vorbereitet, für mich zu einem Hör-Ereignis. Der Ton fängt an, in mir, in meiner leiblichen Organisation, feinstofflich zu schwingen und zu vibrieren. Eine Folge davon ist, dass ich mich unwillkürlich aufrichte – oder müsste ich sagen: Der Ton richtet mich auf? Mein Atem vertieft sich. Ich atme ruhiger, tiefer und freier. Es bilden sich innere Resonanz-Räume, und das Erlebnis stellt sich ein: Der Ton berührt mich. Dieses Erlebnis kann richtiggehend einen Schreck auslösen; denn der Ton berührt mich so sanft, aber bestimmt und mir zugewendet zugleich, wie ich das sonst nur von einer Berührung durch einen anderen Menschen kenne.
Wir rühren hier an eine Erlebnisschicht, die etwas von der eigentlichen Größe und Gewalt der Töne offenbaren kann. Es entsteht eine Ahnung davon, dass die Begegnung mit einem Ton zu einer tiefen und verwandelnden Wesensbegegnung werden könnte. Und wir verstehen einmal mehr des Dichters Wort: «Das Schaudern ist der Menschheit bestes Teil» (Goethe, ‹Faust II›).
Der Ton geht durch den Tierkreis
Nach dem ersten Erscheinen dieser Forschungsergebnisse (in der Zeitschrift ‹die Drei›, 1/2010) bekam ich einen erstaunlichen und zugleich sehr wesentlichen Hinweis von James Gillen (1946–2013), wie man die von mir gefundenen zwölf Hörphasen mit dem Tierkreis in Verbindung bringen kann. Er wies darauf hin, wie der einzelne Ton in diesen zwölf Stationen einen Weg zurücklegt durch den ganzen Tierkreis, und zwar vom Steinbock bis zum Schützen, wie er also gleichsam einmal durch den Jahreslauf hindurchgeht. Ich möchte diese Entwicklung hier zu beschreiben versuchen.
Die Stille davor in ihrer Qualität als allgemeiner Hörraum ist sozusagen der ‹tiefste Punkt› der ganzen Entwicklung. Das entspricht dem Steinbock im Jahreslauf, der dunkelsten und kältesten Zeit des Jahres (22. Dezember bis 20. Januar). In dem Vortragszyklus ‹Der menschliche und der kosmische Gedanke› (GA 151) ordnet Rudolf Steiner dem Steinbock die Weltanschauung des Spiritualismus zu. Man könnte in diesem Sinne sagen: Hier ist der Ton noch ganz geistig, eben rein spirituell. Er ruht noch im dunklen Schoß des Unhörbaren.
Der nächste Schritt bringt schon eine erste Bewegung mit sich. Ich öffne mich – in der Stille davor – Tönendem. Dadurch wird eine Wassermann-Qualität erlebbar. Diese hat – nach Rudolf Steiner – mit der Weltanschauung des Pneumatismus zu tun. Pneuma heißt Hauch, Wind oder auch Geist. Der Ton als Unhörbares, noch rein Geistiges kommt in eine erste innerliche Bewegung, einem sanften Windhauch gleich.
Der dritte Schritt führt den Ton dann in die Seele des hörenden Menschen. Ich höre jetzt einen bestimmten einzelnen Ton innerlich – seelisch – vor. Dies geschieht im Zeichen der Fische. Weltanschaulich ist das der Psychismus. Der Ton ist für mich nun psychisch real geworden. Er wird innerseelisch erlebt. Man könnte auch sagen: Der Ton bekommt ein Schicksal in meiner Seele.
Mit dem Widder erfolgt ein Neueinschlag. Der Ton betritt nun die Erde; er erklingt physisch. Er inkarniert sich. Darin kommt auch ein Willensimpuls zum Ausdruck. Der Widder springt nach vorne und schaut zugleich zurück. Im Jahreslauf beginnt mit dieser Entwicklung korrespondierend der Frühling. Weltanschaulich sind wir idealistisch gestimmt – wir greifen nach hohen Zielen, die wir verwirklichen wollen (Idealismus).
Das folgende Einschwingen des Tones im Material kann gut mit einer Stierqualität erfasst werden. Beharrlichkeit und Stehvermögen braucht es, damit der Ton wirklich auf der Erde ankommen kann. Der Stier steht unverrückbar auf der Erde und scharrt mit den Hufen. Wir blicken dabei als Rationalisten auf die Welt. Auch das Nebengeräusch in der Tonerzeugung gehört hierher, hat hier seinen Platz (Rationalismus). Die Phase der Entfaltung des Tones im Raum lässt etwas zwillingshaft erblühen. Im Zeichen der Zwillinge breitet der Ton sich äußerlich aus. Er ergreift den äußeren Raum im Medium der Luft. Das kann man bis in die Schwingungen hinein messen und berechnen (die Weltanschauung des Mathematizismus).
Schließlich erreichen wir den ‹höchsten Punkt› der ganzen Entwicklung: die Johannizeit, sie erstrahlt im Zeichen des Krebses. Eine große Fülle ist erreicht. Der Ton klingt in mir und gleichzeitig draußen in der Welt. Das ‹Material› des Tonwesens darf sich nun ganz ausbreiten. Der Materialismus als Weltanschauung wurzelt in dieser Sphäre. Dann verklingt der Ton. Er klingt nur noch in mir. Das kann man löwenhaft genießen – der Ton wird zu Herzenswärme in meinem Fühlen. Dem entspricht weltanschaulich der Sensualismus. Ich spüre das Tonwesen.
Es folgt eine Ernüchterung durch die Jungfrau. Es handelt sich um den nur kurz zu erfassenden physiologischen Nachklang des Tones, ein unspektakuläres Phänomen gleichsam im Ohr (reiner Phänomenalismus). Dann setzt äußere Stille ein. Der Ton bewegt sich nur noch in mir und wird da ausgewogen. Im Zeichen der Waage verlassen wir die Hörbarkeit. Weltanschaulich werden wir hier zu Realisten. Die innerliche Tonrealität kann konkret erfahrbar werden (Realismus).
Das geht über in den weiteren Stilleprozess: Ich lasse den Ton los – der Ton lässt mich los. Da wirkt ganz verinnerlicht der Dynamismus, verbunden mit der Skorpionkraft. Es ist nämlich auch ein Absterbeprozess, was wir hier erleben.
Und die ganze Tonentwicklung kommt im Schützen schließlich an ihr Ziel. «Das Werden erreicht die Seinsgewalt», formuliert Rudolf Steiner mantrisch als die Qualität der Sonne im Schützen. [4] Ich kann, nach diesem schützenhaften Treffen des Ziels, dem ganzen von mir nunmehr durchlaufenen Prozess nochmals nachhören und nachfühlen. Dabei komme ich ganz zu mir. Ich erfasse mich als diese hörende Monade, die ich bin (Monadismus).
Der Ton ‹sagt› mir im Grunde, auf die Zwölfheit weisend: ‹Das bist du.› Oder anders gesagt: ‹Du bist ein Ich.› Ich spüre nun, wie alle zwölf Stufen oder Phasen des Tonerklingens an meinem Wesen gearbeitet haben. Die sogenannte Mondenzeile der Schützenstimmung nach Rudolf Steiner bringt dies treffend zum Ausdruck: «Das Seiende fühle das Seiende!»
Der Artikel ist zwei Kapiteln des Buches entnommen ‹Vom Schicksal der Töne in unserer Zeit – Musikalische Betrachtungen zur Anthroposophie› Edition Widar, Hamburg 2019, 120 Seiten
[1] Johann Wolfgang von Goethe, Maximen und Reflexionen. Hamburger Ausgabe, Band 12, München 1994, S. 473.
[2] Ich danke in diesem Zusammenhang meinen Kollegen Karin van Buiren und Matthias Bölts sowie unseren Studenten für die vielen anregenden Stunden des gemeinsamen Fragens, Übens und Hörens.
[3] Vgl. zu dieser Methodik geistiger Forschung meinen Essay: Die Beobachtung des Denkens als geistige Zeugung, in: Von der Philosophie zur Anthroposophie. Hamburg 2016.
[4] Siehe: Zwölf Stimmungen, in: Wahrspruchworte (GA 40).
Titelbild: Philip Stoll, Ohne Titel, 2018, 80 × 80 cm, analoger C-Print
Im Gehen entstehen Bilder
Philip Stoll belichtet mit der Kamera, als wäre diese sein eigener Körper, aus dem er heraus – blickt in den Raum, ganz im Bewusstsein der eigenen Wahrnehmung. In dem Moment, in dem das Gefühl der eigenen Aufmerksamkeit konkret wird, entstehen Fotografien, die aussehen wie Malerei. Ihre atmosphärische Dichte und ihre Intensität laden die Betrachtenden ein, mit dem Blick in die Tiefe zu gehen, sowohl im Außen als auch im Innen. Licht wird zu Materie, deren Farbigkeit im Bild spürbare Räume erzeugt. Aus der kontinuierlichen Bewegung des Gehens heraus entsteht eine abstrakte Ebene: für eine ganz persönliche Begegnung. Valeska Stach
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