Bücher statt Waffen

Arizza Nocum ist eine der jüngsten Nominierten für die Liste der 100 einflussreichsten Frauen auf der Welt und eine der zehn herausragendsten Studierenden auf den Philippinen. Sie ist Mitbegründerin und Präsidentin von KRIS, einer Non-Profit-Organisation, die für gleichberechtigte Bildung als Weg des Friedens auf den Philippinen arbeitet. Durch diese Organisation trägt sie Vertrauen und Hoffnung in die Jugend. Ihr Beitrag stammt von der International Students’ Conference ‹Trust› der Jugendsektion, die Ende März am Goetheanum stattgefunden hat.


Ich komme aus einem ressourcen- und naturreichen Land, das vorwiegend für seine schönen Strände bekannt ist. Ich lebe gern hier und liebe dieses Land. Aber es hat auch eine Schattenseite. Wir sind Terrorismus und Konflikten zum Opfer gefallen. In den südlichen Philippinen gab es davon sehr viel. Ich wuchs mit den Geschichten meiner Großmutter auf, die Angst hatte, in ihrer eigenen Heimatstadt entführt zu werden. Ich hörte die Erzählungen meiner Cousins, die nachts aufwachten und Schüsse hörten. Ich lebte dort, wo es vor ein paar Jahren schwere Kämpfe zwischen separatistischen Gruppen und der Staatsarmee gab. Ich habe mich immer gefragt, warum das geschieht.

Auf dem Index der gefährlichsten Länder der Welt liegen die Philippinen im Jahr 2020 auf Platz zehn, nach Afghanistan, Irak, Nigeria und einigen anderen. Und die Realität ist, dass einige Teile meines Landes tatsächlich sehr gefährlich sind. Es herrscht ein Mangel an Vertrauen und Zusammenhalt unter den Menschen, der aus den unterschiedlichen Religionen und Kulturen entstanden ist. Wir haben viele Glaubensrichtungen, aber die zwei Hauptreligionen sind Christentum und Islam. Fast 90 Prozent der Bevölkerung sind katholisch und etwas über 5 Prozent muslimisch. Geschichtlich gab es bereits viele Konflikte und Spannungen und bis heute resultieren Extremismus und Terrorismus daraus.

1 Kinder aus Patikul, Sulu, interessiert an der Nomaden-Bibliothek von KRIS. 2 Die katholische und islamische Studentinnen lesen zusammen, damaligen Bibliothek von KRIS.

Wir sind nicht allein

Aber wir alle haben in vielerlei Hinsicht einen Mangel an Vertrauen erlebt oder kennen das aus unseren eigenen kulturellen Kontexten. Wir sehen heute in den usa und Europa Nazi-Flaggen, die aus einer anderen Zeit stammen und trotzdem noch öffentlich getragen werden. Man fühlt Angst, Wut und fragt sich, wie es sein kann, dass eine Gruppe Menschen will, dass eine andere Gruppe unterdrückt wird und Leid erfährt. Gleichzeitig gibt es Proteste wie die von Black Lives Matter. Dieses Jahr gibt es in den usa wieder Proteste wegen einer Steuer, die asiatische Amerikaner und Amerikanerinnen betrifft, darunter auch Philippinos. Wir sehen die erneute Ungerechtigkeit. Regierungen selbst können diese Gewalt und den Mangel an Vertrauen erzeugen. In Myanmar hat die Militärregierung gerade die Macht übernommen und die demokratisch gewählte Regierung eingesperrt, sie am Regieren gehindert. Ich bin mit Menschen dort befreundet, die auf die Straße gehen, um zu protestieren. Sie verabschieden sich von ihren Familien, so als würden sie diese eventuell nicht wiedersehen, weil sie erschossen werden könnten. Und selbst in den sozialen Medien gibt es Entzweiung, Misstrauen, Polarisierung und einen Mangel an Vertrauen.

Neben der Pandemie gibt es auf den Philippinen, aber nicht nur hier, auch die Probleme der Rezession, des Klimawandels und des Kollapses der Biodiversität. Für junge Menschen ist das Jahr 2020 sehr hart gewesen. Aber was können sie tun? Das ist sehr grundlegend. Sie können zusammenkommen.

Der Klebstoff des Vertrauens

Es gibt bei uns diesen sehr banalen Haushaltsgegenstand des Besens. Dünne Holzstreifen werden zusammengebunden, um Dreck wegzufegen. Hätte man nur einen Streifen, könnte man damit nichts tun. Am besten ist es, alle Streifen zusammenzubinden und gut miteinander zu verbinden, zusammenzukleben, damit sie bestmöglich halten und ihre Aufgabe erfüllen können. Dieser Klebstoff ist für uns das Vertrauen.

Wie können wir das Vertrauen fördern, das Menschen zusammenhält? Zur Antwort eine Geschichte: Es ist eine Liebesgeschichte. Ein Mann kommt aus einer Stadt in den Philippinen. Er ist ein sehr gläubiger Katholik, der sogar überlegt hat, Priester zu werden. Und da ist eine Frau, die ethnisch aus einer islamischen Gemeinschaft kommt und sich immer vorgestellt hat, in einer islamischen Ehe zu leben. Als sich die beiden begegneten, passierte es einfach, sie verliebten sich. Ihre Eltern waren dagegen, aber sie heirateten trotzdem und bekamen ihr erstes Kind, mich. Mein Aufwachsen war ein Gemisch aus beiden Religionen. Wir feierten Weihnachten und Eid al-Fitr. Ich ging zur Messe, zu der mich meine Mutter begleitete, ohne an den Sakramenten teilzunehmen. In unserem Haus gab es keine religiösen Objekte, weil meine Eltern es neutral halten wollten, sodass beide Religionen dort praktiziert werden konnten. Einige meiner Verwandten lehrten mich den Koran, andere die Bibel. Es war ein interessanter Mix und ich kenne sonst niemanden, der durch so etwas gegangen ist. Meine Eltern haben auch entschieden, dass meine Geschwister und ich in beiden Religionen erzogen werden sollten, damit wir später selbst entscheiden könnten. In diesem Raum zwischen Islam und Christentum bei mir zu Hause gab es Harmonie, Frieden, Vertrauen und Liebe. Er war komplett anders als das, was ich um mich herum erlebte.

Später hatte ich im Zusammenhang mit meiner Bildung noch ein Erlebnis, das mich zu der machte, die ich heute bin. Ich bekam ein Stipendium für die Highschool, sodass wir für meine Bildung nichts bezahlen mussten. An der Universität war es dasselbe. In anderen Ländern ist das vielleicht anders, aber bei uns ist das sehr, sehr selten und Menschen zahlen viel Geld für die Bildung ihrer Kinder. Ich war also sehr privilegiert. Das wollte ich nicht als selbstverständlich ansehen. Ich erfuhr sowohl Liebe und Vertrauen zu Hause trotz zweier Religionen und die Möglichkeit für Bildung. Ich fragte mich: Was kann ich tun, um etwas zurückzugeben, um anderen zu helfen?

Arizza Nocum während ihres Videobeitrages.

KRIS für den Frieden

Ich sah ein Zitat von Maria Montessori: «Dauerhaften Frieden zu etablieren, ist die Aufgabe der Bildung. Uns aus dem Krieg rauszuhalten, ist die Aufgabe aller Politik.» Das war der Moment, in dem die Idee für KRIS entstand, dieser Non-Profit-Organisation. Ab 2008 haben wir begonnen, Bibliotheken aufzubauen, Geld für Stipendien zu sammeln und auch Bücher, um Kinder, die von Konflikten und Armut betroffen sind, mit Literatur zu versorgen. Wir wussten, dass viele junge Menschen terroristischen Organisationen beitreten, weil sie keine andere Möglichkeit sehen. Nicht zur Schule gehen zu können bewirkt, dass junge Menschen einfacher von terroristischen Vereinigungen indoktriniert werden können. Bildung und Stipendien können da helfen. Der Zugang zu Bildung, Büchern, Geschichten öffnet auch die Gedanken, macht für andere Kulturen offener, auch respekt- und vertrauensvoller. Wir haben durch KRIS mehr als 400 Stipendien für Schule und Universität ermöglicht. Mit den Jahren haben wir Tausende von jungen Menschen in den Konfliktregionen erreicht. Wir richteten mobile Bibliotheken ein in den Gebieten, die am stärksten von Extremismus und Armut betroffen sind. Und wir organisierten Aktivitäten in unseren Bibliotheken. Am Anfang sah man noch, dass die muslimischen und die christlichen Kinder sich getrennt setzten. Aber dann gab es mehr und mehr ‹Durchmischung›, je mehr sie zusammen lernten, spielten und Zeit miteinander verbrachten.

Wenn man die Geschichte teilt, öffentlich macht, kommt es zu Synergien mit anderen Organisationen.

KRIS arbeitet mit der Kofi Annan Foundation zusammen in der Initiative ‹Extremely together›, die junge Menschen weltweit zusammenbringt, die sich gegen Gewalt und Extremismus erheben. Es gibt also viele positive Aspekte durch die Jahre mit meiner Arbeit mit KRIS.

Ich habe seit meinem Studium für KRIS gearbeitet und all meine Kraft da hineingegeben. Irgendwann kam ich an einen Punkt von Burn-out, auch weil die Unterstützung durch Freiwillige und Geldgebende abnahm. Es war traurig, dass diese ganze Energie auf nichts zurückfiel und wir die Bibliotheken schließen mussten. Das führte mich in eine Krise, die mit dem Verlust an Selbstvertrauen zu tun hatte. War ich gescheitert? Vielleicht war ich keine gute Leitung, war zu jung, um an etwas zu arbeiten, was so komplex ist wie Frieden zu stiften? Ich begann einen anderen Job und dachte, ich würde nie mehr zu so etwas wie KRIS zurückkehren. Aber es fühlte sich so an, als wäre ich nicht komplett, als fehlte mir doch etwas. Dann sah ich 2019 ein altes Foto aus der Zeit meiner konkreten Arbeit mit KRIS wieder. Das Foto stammt aus einem Rehabilitationscamp, in dem die Menschen nach einer Schlacht in einer der Extremistengegenden der Philippinen lebten. Die Familien hatten ihre Häuser verloren und mussten neu angesiedelt werden. KRIS half mit Essen, Kleidung und Büchern. Interessanterweise stritten sich die Kinder nicht um das Essen, sondern um die Bücher. Der Junge auf dem Foto hatte sich ein Buch geschnappt und begann in der Mitte des Platzes zu lesen, weil es natürlich keine Tische gab. Als ich das sah, begann ich erneut mit KRIS. Seit 2019 haben wir darauf fokussiert, für junge Menschen Trainings in Friedensstiftung und Führungsverhalten zu organisieren. Wir betreiben Kampagnen für Frieden, Empathie, Vertrauen, Diversität und Eintracht. Auch mit Covid-19 versuchen wir produktiv umzugehen, indem wir Tablets, Bücher usw. für Kinder und Jugendliche, die dazu keinen Zugang haben, organisieren. Wir arbeiten auch weiter mit anderen Organisationen zusammen. Mit der Extremely-Together-Initiative haben wir diese Ideen nicht nur auf den Philippinen verbreiten können, sondern auch in Ländern wie Uganda, Somalia, Pakistan und Bangladesh. Kofi Annan hat einmal gesagt: «Bildung ist Friedensstiftung unter einem anderen Namen. Es ist die effektivste Art von Verteidungungsausgaben.»

1 Gespendete Bücher für die öffentlichen Schulen in Konflikts-und Armutsgebieten. 2 Kinder aus den Slums der Hauptstadt Manila in der damaligen Bibliothek von KRIS.

Reflektieren

Zum Abschluss möchte ich einige Aspekte zur Reflexion über die praktische Arbeit für Frieden und Vertrauen erwähnen.

Erstens Bevor wir Konflikte ansprechen, müssen wir verstehen, was Konflikte sind. Wir sollten Menschen, die sich extremistischen Gruppierungen anschließen, nicht verurteilen. Es gibt Gründe für ihre Entscheidungen. Vielleicht sind es Armut, der Mangel an Möglichkeiten, geschichtliche Ungerechtigkeit, Diskriminierung, Klagen gegenüber dem Staat, religiöse Ideologien, Gewalt in der Herkunftsfamilie, geistige Erkrankungen oder auch ein Mangel an Zielen oder Sinn.

Zweitens Um Vertrauen und Zusammenhalt in einer Gesellschaft zu stärken, braucht es gemeinsame Handlungen. Wir müssen einander vertrauen, weil wir es einfach müssen, um die Probleme der Welt zu handhaben, weil wir ein gemeinsames Ziel haben, zum Beispiel zu überleben, den Klimawandel zu bremsen.

Drittens In der Bildung braucht es Raum für Werte, nicht nur für faktisches Wissen. Werte verbinden uns in unserer Unterschiedlichkeit. Wenn man Vertrauen nicht im Klassenzimmer lernt, wo können Menschen sonst lernen, einander trotz der ethnischen Unterschiede zu vertrauen?

Viertens Wir können jederzeit Vorbilder für Vertrauen sein, selbst in den einfachsten Dingen. Man kann das beginnen im eigenen kleinen Rahmen, in der Familie, in den sozialen Medien. Wir unterschätzen, wie kraftvoll es sein kann, ein Vorbild zu sein. Das kann positive Kettenreaktionen auslösen.

Fünftens Vertrauen ist nicht nur für andere wichtig, sondern auch für uns selbst. Ich habe meinen Beitrag mit ‹Bücher statt Waffen› betitelt, weil ich für mich herausgefunden habe, dass Bildung der Weg ist. Aber ich habe mit diesem Weg als junge Frau begonnen, die noch nicht genug wusste und konnte, sondern nur etwas zurückgeben wollte. Diese junge Frau hatte genug Selbstvertrauen, um zu dem Punkt zu gelangen, wo sie teilen konnte. Jeder möchte seine Familie unterstützen, sein Potenzial in der Zukunft nutzen, auch wenn wir verschieden sind und unterschiedliche Träume haben. Darum können wir Vertrauen zueinander finden, weil uns das als Menschen verbindet.


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Alle Fotos: Arizza Nocum/KRIS

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