Credit:Julia Toro_Milagre

Wie bilden wir Vertrauen unter uns?

Rodrigo Rubido ist Architekt und Mitbegründer der Organisation Elos – Transformation in community, die soziale Bildung und Gemeinschaftsentwicklung vorantreibt. Er arbeitet in verschiedenen Ländern als Berater für sozialen Wandel und solidarisches Handeln in Notsituationen. Ende März sprach er auf der ‹Trust›-Konferenz der Jugendsektion am Goetheanum.


Mit meiner eigenen Waldorfschulbiografie war ich nicht glücklich, aber ich bin mit Anthroposophie sehr verbunden und habe hier, in Brasilien, auch eine Waldorfschule für meine Kinder mitbegründet. Je mehr ich Anthroposophie studiere, desto mehr Verbindungen sehe ich zu meiner Arbeit im Elos-Institut. Sieben Jahre organisierte ich Jugendtagungen. Ich arbeite sehr gern mit Jugendlichen zusammen. Es ist mein Wunsch, Hoffnung in diese schwierigen Zeiten zu bringen.

Für die Entwicklung und Umwandlung von Gemeinschaften haben wir bei Elos eine Methode entwickelt, die ich gern vorstellen möchte. Dabei werde ich einige Geschichten erzählen, die etwas über das Wesen des Vertrauens verdeutlichen. Die Methode handelt von sieben Praktiken, die uns helfen.

Vertrauen bauen

Der erste Schritt ist, was wir ‹den Blick›, ‹das Anstaunen› nennen. Er soll uns die Fülle, den Reichtum verdeutlichen, anstatt die Angst, den Mangel oder die Sorge zu sehen. Wir können das Potenzial deutlicher sehen, wenn wir unsere Vorurteile und Klischees loslassen. Wenn man durch eine Favela geht, ist es besser, blind durchzugehen, sonst begegnet man nur seinen Vorurteilen. Denn wir sind überfüllt mit schlechten Geschichten über diese Orte. Eine Übung in unseren Kursen ist, blind durch eine Gegend zu gehen. Ein Mädchen beschrieb diesen ‹Blindenweg› so, dass sie die Geräusche (Vögel, Kinderspielgeräusche) wahrnehmen konnte, die sie an ihre Kindheit und den Bauernhof ihrer Großmutter erinnerten. So können wir das Schöne suchen. Überall, wo es Menschen gibt, werden sie als ‹conditio humana› das Schöne kultivieren, egal in welcher Form. Die Schönheit in einer Favela kommt in sehr einfacher Form daher, zum Beispiel in der Farbe der Blumen oder einer Bambusstruktur in einem Fischerdorf. Schönheit liegt im Auge der Betrachtenden. Das Schöne oder Gute in einer Person zu sehen, hat einen Anteil am Vertrauen zu ihm.

Ich lebe zwischen vielen Mangrovenwäldern an der Küste, in der Region Santos. Die Bewohnerinnen und Bewohner der Favelas hier bauen sich ihre Hütten in diesen Wäldern, leben am Fluss, schwimmen mit Delfinen. In unserer Arbeit begannen wir uns zu fragen, was reich oder arm ist. Diese Menschen haben Wissen, das nicht jeder hat. Die Art, wie sie ihren Raum organisieren, birgt Potenzial. Ein Zaun sieht zwar schäbig aus, zeigt aber zugleich, dass sie sich keine Sorgen machen um die Sicherheit in ihrer Nachbarschaft. Sie müssen sich nicht stark abgrenzen und sichern. Wenn sie keinen Kaffee haben, borgen sie sich welchen nebenan. Sie passen auf ihre Kinder gegenseitig auf. Ich bezahle in der Stadt Geld für meine Sicherheit. Es gibt einen Wachmann, der unser Haus bewacht.

Foto: Julia Toro

Die zweite Praktik lautet ‹Zuneigung›. Sie muss vor dem Beurteilen oder der Angst voreinander stehen. Vertrauen hat auch damit zu tun, dass wir gemeinsame Werte haben. Die andere Person trägt einen Wert, beispielsweise Vertrauen, das auch für mich ein hoher Wert ist. Deshalb regen wir an, die Person hinter der Schönheit zu finden. Es gab ein 19-jähriges Mädchen bei uns, das sich in die Fischereikultur in den Dörfern verliebt hatte. Sie versuchte, die Menschen hinter der Schönheit dieser Kultur zu finden, die sie bewunderte. So begann sie, mit den Fischern zu reden und sie kennenzulernen. Sie hörte ihren Geschichten zu, ihrer Liebe zum Meer, ihren ererbten Traditionen. In so einem Gespräch beginnt man, über Werte zu sprechen, und findet auch gemeinsame Werte. Man verbringt auch Zeit miteinander, was ein weiterer Schlüssel für vertrauensvolle Beziehungen ist. Es geht nicht darum, in arme Gemeinschaften zu kommen und ihnen irgendein ‹Wissen› zu bringen, sondern ihren Werten und ihrer Weisheit zuzuhören. Manchmal veranstalten wir Talentshows, um individuelle Talente sichtbar zu machen. Wenn man die Talente der anderen feiern kann, kann man eine vertrauensvolle Beziehung aufbauen. Diese Wertschätzung spielt eine große Rolle, weil sie dazu führt, dass der geschätzte Mensch sich ermächtigt fühlt, etwas von sich zu geben.

Als Drittes kommt die Frage, was wir gemeinsam tun wollen. Wir nennen diese Praktik ‹Träume›. Wir wollen nicht irgendetwas machen, sondern etwas Spezifisches. Der beste Antrieb für Veränderungen ist, die Träume der Menschen wertzuschätzen. Nach den Problemen zu fragen, ist nicht so wichtig. Wenn man das fragen würde, schaut man von oben nach unten. Wenn man fragt, was jemand für seine Gemeinschaft tun will, wovon er träumt, hört man trotzdem oft zuerst von den Problemen. Aber wir sind da und wollen den schönen Träumen zuhören. Vertrauen und Selbstvertrauen werden stärker, wenn man sich von Träumen erzählt und erzählen lässt. Wenn wir das Potenzial von außen nicht sehen, entkräften wir die Menschen. Wir bringen sie in die gewohnte Lage, ihre Probleme zu teilen und auf Hilfe zu warten. Doch wenn man Träume teilt, beginnt man, aufzublicken. Es entsteht eine Magie, die verbindet, auch wenn der Traum noch nicht verwirklicht ist. Aber man fühlt, dass es möglich ist. Man erhält damit eine Richtung, in die man gehen kann oder will.

Wir haben mit verschiedenen Menschen über ihre Träume gesprochen, mit Kindern und Müttern. Kinder vertrauen darauf, dass ihre Träume wahr werden. Heute hören viele Kinder, dass man gut für sich selbst sorgen, also egoistisch sein und sich auf den Wettbewerb vorbereiten sollte. Man dürfe nicht naiv sein und müsse seine Träume am besten vergessen. Es gab einen Mann, der in der Gemeinschaft als nicht hilfsbereit, sondern eher als selbstsüchtig bekannt war. Aber als er erfuhr, dass Menschen sich über den schönen Traum eines Kindergartens in der Kommune unterhielten, kam selbst er und wollte helfen, indem er Land anbot. Er wollte Teil dieses Traums der Gemeinschaft sein, einen schönen Kindergarten zu bauen. Es ist ein Privileg, an einem Traum, der dem Wohl aller dient, mitzuwirken. Konkret veranstalten wir ‹Kreise der Träume›. Wenn man mit Einzelnen über ihre Träume redet, fühlen sie sich manchmal trotzdem allein und wir sind auch nicht gewohnt, unsere Träume zu teilen. Wenn eine Gruppe von Menschen dafür zusammenkommt, stellt sich oft heraus, dass auch Träume und nicht nur Werte geteilt werden. Das verbindet enorm in der Gemeinschaft. Überall, wo ich hinkomme – ich arbeite mit etwa 100 Gemeinden und das Elos-Institut insgesamt mit etwa 300 Gemeinden –, habe ich erfahren, dass Menschen gemeinsame Träume haben. Aber wir haben noch keine große Kultur, die dazu anregt, das herauszufinden.

Weil wir auf unsere Träume aufpassen wollen, ist der vierte Schritt ‹Pflege›. Das heißt, auf uns selbst, aufeinander, auf unsere Träume aufzupassen. Durch unsere Arbeit in der Architektur haben wir die Strategie entwickelt, Modelle zu bauen, die die gemeinsamen Träume aufzeigen. Je nach Gemeindegröße gibt es verschiedene Gruppen, die an den Modellen arbeiten, wo die Träume für die Kommune ganz konkret entworfen werden. Die verschiedenen Modelle schauen wir uns mit allen an. Es geht nicht darum, wer sich am besten vorbereitet hat, sondern welche Ideen am besten sind, um die gemeinsamen Träume zu verwirklichen. Es ist ein Akt der ‹kollektiven Intelligenz›, die durch einen Prozess der Fülle statt durch einen Prozess des Mangels gegangen ist. Wenn Menschen fühlen, dass sie Teil der Lösung sind, wächst das Vertrauen. Und alle spüren, dass die Gemeinschaft auch die Kraft hat, Lösungen und Wandel hervorzubringen.

Rodrigo Rubido während seines Videobeitrages.

Eine schöne Geschichte aus London will ich teilen. Dort hatte ein junger Mann den Traum, ein Gemeinschaftsklavier zu haben, weil er in der Schule Klavier lernte, aber zu Hause keines hatte. Normalerweise gehen wir mit unserer Methode so vor, dass bis zum Wochenende die Träume umgesetzt werden müssen. Das ist wie ein Spiel. Deshalb heißt der fünfte Schritt ‹das Wunder›. Es geht darum, praktisch zu werden mit den Träumen, zusammenzuarbeiten, um die gemeinsamen Träume wahr werden zu lassen. Auch das sind wir so nicht gewohnt. Häufiger folgen wir jemandem. Doch die Menschen organisierten zusammen ein Klavier und der Junge konnte spielen. Ein anderes Mal waren wir in Amsterdam in einem Wohngebiet eingeladen, in dem viele Migranten und Migrantinnen leben. Niederländische Frauen hatten sich beschwert, weil sie Angst hatten, dieses Gebiet abends zu passieren. Für uns, die Favelas gewohnt sind, war das Viertel in Amsterdam recht angenehm. Es gab Bedrohungen oder Belästigungen, aber keine Gewalt, wie wir sie gewohnt sind. Ein Großteil dieser Konflikte lag in den kulturellen Unterschieden. Im Grunde sprachen alle Beteiligten davon, dass sie einander kennenlernen wollten. Ein junger Mann des Viertels schlug vor, die Diversität des Stadtviertels zu feiern, anstatt sich auf die Probleme der verschiedenen Kulturen zu fokussieren. Deshalb bemalten sie eine Wand mit allen Fahnen der unterschiedlichen Nationen, die dort zusammenlebten. Später legten sie zusammen einen Garten auf einem Stück Land an, das zur Moschee gehört hatte. Aber um den Garten zu bauen, brauchte es die Hilfe aller Bewohnerinnen und Bewohner. Besonders eine Frau, die die Planungsaufsicht für das Viertel und viele Vorurteile hatte, war schwer für das Projekt zu gewinnen. Aber sie kam und half. Der Imam kam, um sie zu begrüßen, und wertschätzte ihr Talent für die Gartenplanung.

‹Die Feier› ist der vorletzte Schritt. Wir feierten in den Niederlanden, in Großbritannien, in Brasilien und vielen anderen Orten, dass wir uns individuell schätzen und gemeinsam etwas erreicht haben. Und im letzten Teil des Prozesses steht die ‹Re-Evolution›. Ein ganzer Prozess kann oft noch größere Veränderungen hervorbringen. In einer brasilianischen Gemeinde haben die Mitglieder in fünf Tagen eine kleine Kindertagesstätte errichtet, aus eigenem Potenzial, ohne Fördergelder. Sie nutzten den Ort am Wochenende auch für andere Gemeindezwecke. Ein Jahr später haben sie ein neues Haus gebaut, das viel größer war als das erste. Zehn Jahre später wurde ein Kulturzentrum erbaut, mit finanzieller Hilfe des Staates. Dort hatten die Menschen gelernt, sich zu vertrauen, sich zu schätzen und sich zusammenzutun, um weiterzuwachsen, an ihre Träume zu glauben und sie umzusetzen.

Wünsche sind Triebfedern

Mit dem Aufbau von Elos haben wir in unserer Studienzeit begonnen. Wir waren mit der Frage beschäftigt, was unsere Verantwortung als Studierende in der Gesellschaft sei. Die Gemeinden, die mit uns arbeiten wollen, lernen wir unterschiedlich kennen. Im brasilianischen Santos, wo wir unseren Sitz haben, kommen die Gemeinden zu uns. Aber wir reisen auch viel und haben lokale Partnerorganisationen, die bereits mit den Gemeinden arbeiten. Durch sie kommen Anfragen an uns heran. Zum Beispiel haben uns Studierende in Bolivien eingeladen und wir haben zusammen entschieden, an welchem Ort wir arbeiten werden. Wir möchten an den schwierigsten Orten arbeiten, weil wir dort mehr lernen können. Aber die Grundbedingung ist, dass die Gemeinden mit uns arbeiten wollen, dass sie entscheiden, ob sie Teil eines solchen transformativen Prozesses sein wollen. Wenn wir bei unserer Arbeit in der Gemeinde auf Verhärtungen stoßen, seien es ideologische oder Polarisierungen, arbeiten wir immer mit offenen Dialogen und vielen Menschen. Wenn die Möglichkeit gegeben ist, dass so viele Menschen zusammen sprechen können, lässt das Misstrauen nach. In einer großen Gruppe von Menschen ist es auch viel schwerer, zu polarisieren. Dann wollen die Menschen auch nicht kämpfen, sie wollen sich einig werden. Es ist leicht, in Auseinandersetzung zu geraten über Dinge, denen man nicht zustimmt. Man übersieht dabei, wo man zustimmen würde, worüber man sich einig ist oder wo man dieselben Werte hat.

Doch auch unsere Arbeit hat sich seit dem vergangenen Jahr und der Pandemie komplett gewandelt. Wir konzentrieren uns momentan auf Brasilien und priorisieren die Gemeinden, mit denen wir schon gearbeitet haben. Außerdem haben wir uns in Brasilien verstärkt den Gemeinden zugewendet, die von der aktuellen Lage sehr stark betroffen sind, bis hin zu Hungersnöten. Elos kümmert sich um Fundraising, um sie mit Essen zu versorgen, mit Desinfektionsmitteln usw.

Gegenwärtig ist es sehr schwierig in Brasilien. Aber wenn mich die Leute fragen, ob ich glaube, dass es tatsächlich einmal eine Welt ohne Hunger oder Sicherheitsmänner vor dem Haus geben werde, dann sage ich ihnen: Ich brauche eine Utopie, um in dieser Welt zu sein. Ich habe für mich entschieden, an eine Utopie glauben zu wollen und für diese zu arbeiten. Das ist eine Bedingung meines Lebens.


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Fotos: Isabela Senatore. Die Fotos stammen aus verschiedenen Projekten von Elos.

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