In fünf Wochen kommt Goethes ‹Faust› am Goetheanum auf die Bühne, an vier Wochenenden. Es ist der erste Schritt nach dem Lockdown zurück ins Theaterleben und voran ins Theaterleben. Und es ist Schritt zwei in der letztes Jahr von Andrea Pfaehler geführten Neuinszenierung dieses größten deutschen Bühnenwerks. Wolfgang Held im Gespräch mit der Regisseurin.
Warum liebst du das Theater?
Andrea Pfaehler Weil es die größte Liebeserklärung an die Gegenwart ist. Jeder Moment im Theater ist einmalig, lässt sich nicht festhalten und schon gar nicht reproduzieren. Zu bejahen, dass nichts bleiben kann und nichts bleiben soll, das bedeutet Theater, diese fortwährende Feier des Augenblicks. Zu verstehen, dass das kein Verzicht ist, nichts festhalten zu können, sondern dass dadurch etwas Kostbares geschehen kann, darin liegt sein Wert. Alles ereignet sich im Jetzt, mit diesen Spielerinnen und Spielern, mit dieser Geschichte, mit diesen Menschen im Publikum. Natürlich besteht das ganze Leben aus Einmaligkeiten, aber da hat immer der Zufall seine Hand im Spiel. Anders im Theater, hier geschieht es als Verabredung: Die einen kaufen sich ein Ticket, die anderen schminken und kleiden sich – und dann kommen alle zusammen. Beide müssen sich einlassen auf das, was dann geschieht, jenseits all dieser Verabredungen.
Was ist das für ein Jenseits der Verabredungen?
Wenn die Schauspielerin, der Schauspieler etwas verpatzt, dann ist es geschehen, es gibt keine zweite Chance, keinen zweiten Take, wie das beim Film heißt. Sich so dem Augenblick zu übergeben, das kann nur aus der Gewissheit geschehen, dass der Augenblick, so wie er ist, richtig ist. Ich glaube, das ist es, was ich suche: dass der Augenblick, so wie er ist, absolute Gültigkeit hat.
Als Regisseurin arbeitest du für die Lebensbedingungen dieses Augenblicks?
Es gibt einen Widerspruch, der mich schon in der Ausbildung zur Schauspielerin begeisterte und nachdenklich werden ließ: Alles, was auf der Bühne passiert, ist verabredet. Wo die Darstellerin agiert, wie und wohin wir uns bewegen, was wir wie mit welcher Betonung sagen, alles ist geprobt und vereinbart. Mehr noch, auch das, was gerade nicht gesagt, nicht ausgesprochen wird, auch das ist viele Male besprochen und festgelegt worden. Nichts ist zufällig und dennoch ist alles offen. Das ist der Zauber des Theaters, die Gleichzeitigkeit von Verabredung und Offenheit, die Gleichzeitigkeit von ‹ich weiß› und ‹ich weiß nichts›.
Faust zeigt, dass Schönheit über allem steht
«Schönheit bändigt allen Zorn», so entschuldigt sich der Wächter, als er beim Herannahen von Helena kein Zeichen gibt. Als Faust der Hofgesellschaft ein Bild der Helena zaubert, verliebt er sich in deren Anmut. Statt Mephisto zu folgen und als Meister der Illusion alle Macht zu greifen, obsiegt die Schönheit. Als der künstliche Homunkulus Mensch werden will, da ist es die Milchgöttin Galathea, die ihn auf den Weg ins große Wasser zu einer echten Geburt bringt. Galathea, so der Mythos, ist so schön, dass der Wille, sich zu inkarnieren, über alles andere wächst. Mit dem Hymnus auf das Schöne, auf das Weibliche endet das große Werk.
‹Faust›-Aufführung 2020, Walpurgisnacht: oben: Ludowika Held (Gretchen) und Urs Bihler (Mephisto) unten: Bernhard Glose (Faust) mit drei weiteren Mephistos von links: Markus Schönen, Barbara Stuten, Rafael Tavares. Foto: Lucia Hunziker.
Welche Rolle spielt das Publikum?
Ich finde es rätselhaft, dass es ‹ein› Publikum gibt. Nicht nur das Ensemble ist am Freitag anders als am Samstag oder Sonntag, sondern auch das Publikum. Da sitzt jede Person mit ihrer ureigenen Geschichte, ihren ureigenen Ideen, Zielen und Wünschen, und doch wird aus den vielen, die doch alle als einzelne Menschen gekommen sind, dieses ‹eine› Publikum. Sie werden wie zu einem Leib, und als dieses eine Publikum bestimmen sie den Lauf der Aufführung mit. Die Spielenden auf der Bühne merken das deutlich. Sogar die Tageszeit zählt. Ob nachmittags oder abends gespielt wird, ergibt eine andere Vorstellung. Es kommt so viel Gegenwart zusammen, so viele Gegenwarten spielen miteinander, dass das die Essenz bildet, die dann zur Zukunft wird.
Und jede dieser Gegenwarten ist vorbei, wenn sie geschieht. Wie geht man mit dem Schmerz um, dass nichts bleibt?
Es bleibt viel, unendlich viel, aber nicht das, was auf der Bühne geschieht. Der Schauspieler Alexander Moissi konnte den Tod so hervorragend spielen, dass die Leute nur wegen seines Todes auf der Bühne in ein Stück gingen. Was für ein Widerspruch: Ein durch und durch lebendiger Mensch spielt den Tod. Zuschauer standen auf, weil dieser Moment so magisch war. Jeder weiß, dass er gleich wieder aufstehen wird, und doch geschieht da ein Tod. Und weil das so geschieht, sterben wir als Zuschauende mit. Wir machen mit, was auf der Bühne passiert – wenn es gut gemacht ist. Ich atme mit der Verliebten, ich fliehe mit dem Verfolgten, ich juble mit der Siegenden, weine mit dem Trauernden.
Was bedeutet es für die Schauspieler und Schauspielerinnen, diese zweite Wirklichkeit zu schaffen?
Alexander Moissi war der Meister des Todes. Doch wie ist er dann 1935 tatsächlich gestorben? Alleine, in einem Zugabteil, als niemand ihn sah, auf dem Rückweg von einer Italientournee nach Wien. Man hat ihn erst Stunden später gefunden. Er hat sein Leben lang den Tod vor den Augen Hunderter Menschen gespielt und dann stirbt er einsam, ganz für sich allein.
Das ist für mich ein Bild des Schauspielers, der Schauspielerin. Er oder sie teilt so viel und hat zugleich so viel Einsamkeit. Der Übergang dieser Welten, das Gefühl, wenn du nach der Vorstellung im verlassenen, leeren Zuschauerraum stehst und die Bühne wieder abgebaut ist, das ist in meinen Augen ein magischer Moment.
Kein tragischer Moment?
Nein, weil der Himmel offen war. Das kann sogar in der Stille erlebt werden: Da waren so viele Menschen beieinander, eine Schicksalsgemeinschaft von überall her, die an diesen einen Ort kam, zu dieser einen Zeit, um diese Geschichte zu erleben. Alle bringen ihr einzigartiges Leben mit und sitzen dann nebeneinander und schauen auf dasselbe. Da geschieht etwas, was nicht vorhersehbar ist. Oder genauer: Da lebt, da verwirklichen sich die Verabredungen, dieser ganze Kosmos aus stillen Absprachen und Vereinbarungen, die Wochen vorher in der schwarzen Box getroffen, verworfen und wieder getroffen und geschliffen wurden, damit das Unvorhergesehene geschehen kann. Proben, Proben und noch mal Proben, damit das Unbekannte so gut wie möglich geboren werden kann. Das ist auf seine Art heilig. Wenn man dann die Aufführung sieht, kann man diesen Geburtsweg sehen oder spüren. Die Zuschauerinnen und Zuschauer haben es gemeinsam erlebt. Ein geheimnisvoller Dialog zwischen Ensemble und Publikum.
Faust zeigt, wie Schönheit und Innerlichkeit sich finden
Goethe nennt es den Kern seiner ‹Faust›-Dichtung: Faust als fränkischer Ritter im mittelalterlichen Griechenland und Helena als Schönste der Antike finden sich. Helena tritt in die Burg, das Schöne kommt herein – und wird zur Güte! Helena zeigt Faust die Milde, die Schönheit des Willens, als es um Strafe und Gnade des Wächters geht. Dann hört sie Fausts Sprache und findet so, was erst im Mittelalter zu finden ist, die Schönheit in der Mitte, im Ausdruck der Seele.
Ludowika Held (Gretchen) und Anne-Kathrin Korf (Lieschen), Foto: W. Held
Was bedeutet für die Spielenden das Publikum?
Dass all die Augen und Ohren sich auf ein und denselben Ort richten. Als Ensemble diesen Aufmerksamkeitsstrom zu lenken, das ist ja ein gemeinsamer Prozess. Wie fein, wie differenziert das geschieht! Wenn die Schauspielenden sich wenden, den Atem anhalten, entspannen oder anspannen, so tut es das Publikum ebenso. Das ist eine gutartige Manipulation. Das gilt natürlich auch seelisch. Wenn wir jetzt im ‹Faust›, sagen wir in der Schülerszene, wollen, dass das Publikum Sympathie dafür hat, wie Mephisto die Eleven vorführt, dann wird das Publikum ja tatsächlich so mitgehen. Mit welcher Person auf der Bühne das Herz schlägt, da ist sich das Publikum fast immer einig. So verschieden wir alle sind, da geschieht etwas Gemeinsames.
Es ist ein kollektives Gefühl …
… das individuell wird, weil es mit den Schattierungen und Erfahrungen des eigenen Lebens verbunden wird. Die Frage kann sein: Wo ist der Mephisto in mir, wo ist der Kaiser, wo ist die Hexe in mir? Die Zuschauenden können sich dem, was auf der Bühne geschieht, hingeben und dieses Geschehen mit dem eigenen Leben verbinden. Es macht ja große Theaterstücke wie den ‹Faust›, wie die Dramen von Shakespeare aus, dass man fühlt: «Ich kenne diese Figur, die gibt es auch in mir.» Das gilt nicht nur für die Figuren, sondern auch für die Handlungen. Da spiegelt sich ein Panorama, das sich auf dem Schauplatz der eigenen Seele ebenso ereignet.
Bei den ‹Faust›-Proben fiel mir auf, dass du zwei Achsen im Auge hast, wenn es um die Sprache geht: die senkrechte Achse vom Kopf übers Herz zum Bauch und die Achse vom Mund des Sprechenden zum Zuschauerraum. Worum geht es da?
Die Arbeit mit den verschiedenen Körperzentren kann dabei ein Instrument sein. Da lässt sich viel forschen! Anton Tschechow entwickelt daraus ja eine Orchestrierung der Sprache im Leib. Interessant ist: Wenn ich aus einer Region spreche, sagen wir aus dem Herzen, dann kommt es bei den Zuschauenden auch dort an. Er oder sie hört es dann mit dem Herzen. Der Körper der Spielenden ist eine Tastatur!
Faust greift nach der Einheit der Zeit
Wenn die Zeit sich wandelt, wenn ‹Krise› zum Grundton wird, wenn das, was zählt und gilt, neu begriffen wird, dann ist der Rat nahe, sich aus dem Strom zu heben, in dem man zu versinken droht, dem Strom des Zeitlichen. Das ist es, was der Persönlichkeitskern vermag: sich aus dem dreifachen Schmerz – verlorene Vergangenheit, ungewisse Zukunft, schwindende Gegenwart – im Griff nach der Einheit der Zeit zu erheben. Im ‹Faust› ist es die Spanne von der Schöpfung im Prolog, der Reise ins mythische Griechenland bis zur Erzeugung eines künstlichen Menschen.
Und da sind die Mitspielenden.
Natürlich! Wenn man eine Schauspielerin oder einen Schauspieler engagiert, ist deshalb oft die erste Frage: «Wer spielt denn noch mit, wer spielt meinen Partner?» Denn es ist eine geheimnisvolle Chemie, die sich da ereignet – wie zwei zusammenspielen können. Dabei geht es nicht nur um Sympathie und Antipathie, sondern darum, ob ich fühlen und verstehen kann, was der oder die andere will, wollen wird. Ja, es ist ganz ähnlich wie im Fußball: Da muss man ja auch den Ball dorthin passen, wo der andere bald sein wird. Wie kann ich zulassen, dass du etwas willst? Auch um diese Frage geht es, denn ich bin als Spielerin oder Spieler nur so gut, wie mein Gegenüber es zulässt. Die Spielenden sind aufeinander angewiesen: «Die Kette ist nur so stark, wie das schwächste Glied.» Ein Beispiel aus dem ‹Faust›: Da kommt Mephisto in ‹Faust II› als Narr an den Hof des Kaisers. Seine Doppelbödigkeit als Spaßbringer und Teufel zugleich spüren wir als Publikum, weil die Personen darum herum, Kanzler, Kaiser und so weiter, bei den Einwürfen des Narren merkwürdig maskenhaft reagieren, als fühlten sie, dass sie da ein Dämon an die Kandare nimmt.
Wir im Publikum lassen uns davon verzaubern, wir bewundern und applaudieren. Und jenseits der Rollen: Was für Seelen haben Schauspielerinnen und Schauspieler ?
Vielleicht kann ich sagen, dass sie einen großen Reichtum an Farben und Schattierungen in ihrer Seele haben, haben müssen. Ja, eine Farbpalette mit vielen Zwischentönen. Sonst könnten sie daraus nicht schöpfen.
Und womit haben sie zu ringen?
Das ist eine heikle Frage. Wer im Rampenlicht steht und dafür geliebt und gefeiert wird, der tritt ja notwendig immer wieder und tausendmal aus diesem Licht ab. Da ist dann alles Interesse, all die Aufmerksamkeit, die zuvor ihr oder ihm oder vielmehr der Rolle galt, erloschen. Dem Jubel folgt die Stille, ja, manchmal vielleicht auch Einsamkeit. Wie schön ist es also, wenn uns eine Schauspielerin, ein Schauspieler mal nicht den Faust, das Gretchen, nicht den Hamlet oder die Ophelia erzählt, sondern sich selbst! Kaum etwas scheint mir reicher und lehrreicher zu sein als eine Biografie, ein wirkliches Leben! Gerade die, die uns die Bühne lebendig werden lassen, bei denen sollten wir fragen lernen: «Und jetzt erzähl einmal von dir, erzähl dich selbst!» Das macht übrigens die Regie zu einer so großartigen Aufgabe: Da geht es dir um die Rolle, dass der Mephisto, dass Helena so gut, so wahr, so differenziert wie möglich erscheinen, und im gleichen Moment geht es nur um den Schauspieler mit all seiner Lebenserfahrung, nur um die Schauspielerin mit ihrem einzigartigen Charakter und ihrer inneren unverwechselbaren Physiognomie. Das widerspricht sich und steigert sich gegenseitig – in meinen Augen ist das ein großes Geheimnis.
Und daraus wird dann eine Geschichte auf der Bühne und wir im Publikum können uns an Geschichten, an Erzählung, nicht sattsehen. Woher kommt diese Sehnsucht?
Einer Geschichte zu folgen, ob als Kind, wenn die Eltern vorlesen, oder als Zuschauer im Theaterraum, bedeutet, dass wir unser übliches Leben für diese Zeit verlassen und uns in ein anderes Leben entführen lassen. Wir sind mit Faust in Gretchens Zimmer, mit Faust in der Hexenküche. Wir sagen so schön, dass wir ‹abtauchen› und ‹eintauchen›. Vielleicht müssen wir das wörtlich nehmen: ab- und eintauchen heißt ja, dass wir in die Tiefe gehen, in die Tiefe des Lebens! Was alle Geschichten gemeinsam haben, ist, dass sie uns das Leben tiefer und weiter verstehen lassen. Sie zeigen in ihren tieferen Schichten, was im Leben meist unsichtbar bleibt. Aristoteles sagt, dass eine Kultur an ihr Ende kommt, wenn die Menschen in ihr das Geschichten-Erzählen und -Zuhören verlernen. Ist das nicht großartig?
Faust erzählt die immerwährende Gegenwart des Himmels
Wenn Mephisto den Himmel verlässt, wendet sich der Gott zu seinen Engeln: «Doch ihr, die echten Göttersöhne, […] / Umfass euch mit der Liebe holden Schranken, / Und was in schwankender Erscheinung schwebt, / Befestigt mit dauernden Gedanken!» Alles, was Faust unternimmt, begleiten die Engel mit ihren von Liebe getragenen Gedanken. Das ist das Versprechen zu Beginn. Es ist Goethes Religion, dass die Schöpfung anhält und immerfort da ist. Das Versprechen erfüllt sich am Ende: «Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen!»
Im Gespräch mit Isabelle Fortagne (Regieassistenz), Foto: W. Held.
Eine Geschichte ist dann gut, wenn ich verwandelt aus ihr herauskomme – oder?
Ja. Ich liebe die Natur, aber es gibt nichts Schöneres für mich, als einen ganzen Tag in einem Probenraum im Innern eines Theaters zu sein und dann am Abend herauszukommen und zu sehen: «Sieh an, die Welt gibt es noch!» Im Geruch des Holzes und des schweren Metalls vom Bühnenboden, im Geruch des Öls der Züge – weg von der Welt in dieser anderen Welt und dann in die Welt zurückkehren. Da laufen zwei verschiedene Zeitströme. Was wir in der Probe machen, ist: immer verdichten und noch mal verdichten, also die Zeit raffen.
Was heißt dieses Verdichten?
Es geht um Präzision. Eduardo Torres, der die Eurythmie im ‹Faust› verantwortet, sagt mit Recht: Je präziser wir arbeiten, desto freier sind die Zuschauenden.
Markus Schönen klopft als Mephisto mit dem Gehstock auf den Boden, um bei Marthe Schwertlein und Gretchen Eintritt zu bekommen. Warum spielt die Geschwindigkeit dieses Klopfens solch eine Rolle?
Weil jedes unterschiedliche Klopfen, laut oder leise, schnell oder langsam, ein anderes Gefühl im Publikum auslöst. Ich denke nie ohne den Zuschauer, die Zuschauerin!
«Am Schauspiel wird es sich entscheiden», mit diesem Titel hat der Regisseur Christopher Marcus einen Vortrag über das anthroposophische Kunstschaffen gehalten. Warum wollte Rudolf Steiner, warum willst du Theater hier am Goetheanum in der Mitte haben?
Ich habe immer gedacht: Wenn Theater, dann hier!
Wie im antiken Griechenland, wo jede Mysterienstätte ihr Theater hatte?
Das ist schwer zu beantworten, weil diese Frage im Gefühl lebt. Vielleicht so: Was uns Menschen ausmacht, was uns zu uns selbst auf die Spur bringt, das wollen doch diejenigen, die hier am Goetheanum arbeiten und die hier ans Goetheanum kommen, beantworten und das beantworten auch die großen Theaterstücke von Homer, Goethe und vielen anderen. Deshalb gehört es, wie es auch die Architektur des Baus zeigt, mitten herein. Theater ist die Schlagader. Die Faustfrage bewegt die Menschen, die mit der Anthroposophie leben und arbeiten: «… was die Welt im Innersten zusammenhält.»
Faust zeigt das Böse als schöpferische Kraft der Seele
Gegensätze schaffen Spannung und Steigerung. Dieser Grundzug der Natur – Licht und Finsternis zaubern die Farben – lässt die Seele im Kampf von Gut und Böse wachsen. «Des Menschen Tätigkeit kann allzu leicht erschlaffen, / Er liebt sich bald die unbedingte Ruh; / Drum geb’ ich gern ihm den Gesellen zu, / Der reizt und wirkt, und muss, als Teufel, schaffen», so der Schöpfer selbst im Prolog im Himmel. «Das Gute wird noch besser, wenn es durch die Feuerprobe des Bösen hindurchgegangen ist», schreibt der Biograf Rüdiger Safranski zum ‹Faust›.
Im Gespräch mit Bernhard Glose (Faust) und Markus Schönen (Mephisto). Foto: Wolfgang Held
Benedikt von Peter, Intendant am Basler Theater, sagte an einem Podiumsgespräch im Goetheanum, dass das Publikum nach dem Corona-Lockdown neu lernen müsse, sich für Stunden in einen dunklen Zuschauerraum zu setzen. Siehst du das auch so?
Da gibt es die äußere Seite, dass wir verlernt haben, lange mit einem unbekannten Menschen neben uns zu sitzen. Deshalb müssen wir vermutlich beweglicher und kürzer werden im Spiel. Zur inneren Seite gehört, dass ich aushalten muss, zu sehen, wie Spucke fliegt. Da spricht ein Mensch, der schwitzt und keucht, und das zeigt auf allen Ebenen, was in ihm lebt! Das ist alles echt und irgendwo ziemlich archaisch. Wir haben uns in den letzten eineinhalb Jahren von dieser Sinnlichkeit gelöst. Nach diesem Corona-Ausflug in eine Wagner’sche Welt wieder in die Hexenküche zu kommen, dazu muss man ein bisschen Mut haben. Ich bin sehr gespannt, ob wir es aushalten, aus dem Reagenzglas wieder in das volle Leben zu kommen. Wie jemand, der nach einem Beinbruch neu laufen lernen muss und dabei das Glück hat, allzu Selbstverständliches mit neuen Augen zu sehen, so geht es uns jetzt mit Kultur, mit Theater. Das ist aufregend!
Faust umfasst ein ganzes Leben.
Den Teufelsbeschwörer Faust lernt Goethe schon als Kind in einem abgegriffenen Volksbuch kennen, dann im Puppenspiel. Als er sterbenskrank ist, studiert er in Frankfurt Magie und lernt so den Weg von Faust kennen. Das Faust-Thema lässt Goethe sein ganzes Leben nicht los: «So naht ihr wieder, schwankende Gestalten», lässt er sich, als den Dichter, in der Zueignung sagen. Bis in die letzten Lebenswochen schreibt Goethe am ‹Faust› und gießt so sein ganzes Leben in dieses größte deutschsprachige Bühnenwerk.
Bild: Schülerszene 2020 von links: Markus Schönen, Kouji Hanaoka, Felipe Alves, Lou Bihler. Foto: Lucia Hunziker.
‹Faust› am Goetheanum: Letztes Jahr feierte deine Inszenierung Premiere und sie bekam sowohl von der Presse wie vom anthroposophischen Publikum viel Beifall. Jetzt kommt der ‹Faust› von Neuem auf die Bühne. Was heißt das für dich?
Es gab keinen Moment, in dem ich mich ausgeruht habe auf dem, was uns da gelungen ist. Dass es gut lief, ist für mich ein Ja, um den ‹Faust› am Goetheanum weiterzuentwickeln, um weiterzugehen.
Und was kennzeichnet diesen nächsten Schritt?
Die Präzision! Es gibt einige Szenen, die wir letztes Jahr nicht ausarbeiten konnten. Das holen wir jetzt nach. So haben wir jetzt mit dem Spieler Stefan Libardi das Puppenspiel in den 3. Akt von ‹Faust II› eingebaut. Das wollte ich schon letztes Jahr verwirklichen, aber uns fehlte die Zeit. Ich bin froh und sehr dankbar, dass Nils Frischknecht als Geschäftsführer der Bühne und Justus Wittich als Finanzchef des Goetheanum dem ganzen Ensemble und mir für diese Weiterentwicklung das Vertrauen schenken.
Mit der Aufführung senkt sich ja ein Wesen. Welche Beziehung knüpfst du zu ihm?
Ich vertraue tatsächlich darauf, dass sich der Himmel dann etwas öffnet, und dieses Vertrauen hängt davon ab, ob es gelingt, den Bogen zu spannen. Du darfst nicht allein auf das bauen, was heute in den Proben geschieht, sondern es hat mit einer Vision zu tun. Etwas von dieser Aufführung, die dann am 2. Juli beginnt, muss schon jetzt da sein. Vielleicht kommt es anders, und doch muss ich diesen Zielpunkt schon jetzt in mir haben. Der große Bogen muss gespannt sein, und daran haben natürlich viele ihren Anteil.
Wo ist dabei Goethe?
Er ist immer dabei! Ich glaube, er läuft mit. Das macht für mich Goethe aus. Er ist niemand, den ich anbete, sondern jemand, der fortwährend im Prozess ist, jedenfalls fühle ich es so. Oder sollte ich sagen, dass ich ihn zum Prozess mache? Gleichzeitig ist er mir heilig, ist er ein Heiliger. Wer so schreiben kann!
Goethes Faust 1&2
Neun Stunden im Goetheanum
Regie Schauspiel: Andrea Pfaehler
Eurythmie: Eduardo Torres
Aufführungen mit Rahmenprogramm:
2.–4. Juli · 16.–18. Juli · 23.–25. Juli 30. Juli–1. August 2021
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