Kämpferin für die Sprache

Am Ende des letzten sprachwissenschaftlichen Kolloquiums am Goetheanum im März 2020, während um uns herum der Corona-Lockdown begann, zitierte Magdalena Zoeppritz einige Zeilen aus Ezra Pounds Gedicht ‹Mauberley›: «Given that is his ‹fundamental passion›, / This urge to convey the relation / Of eye-lid and cheek-bone / By verbal manifestation». Diese Zeilen, so erzählte sie uns, hätten sie als Schülerin so tief beeindruckt, dass sie darin einen Anstoß für ihr lebenslanges Studium der Sprache fand.


Mit Magdalena Zoeppritz ist eine der Großen der Sprachwissenschaft verstummt. Unermüdlich hat sie sich für die Fragen der Sprache, aber vor allem auch für Rudolf Steiners Sprachbegriff eingesetzt. Besonders kämpfte sie dafür, Grammatik und linguistische Forschung nicht als Materialismus zu verteufeln, von dem Anthroposophen tunlichst die Finger lassen sollten. Das Wort ‹kämpfen› ist in diesem Zusammenhang nicht bloß metaphorisch zu verstehen. Sie stand in mancherlei Auseinandersetzungen, wurde angegriffen und musste sich gegen Vorwürfe verteidigen. Dies geschah zu einem Zeitpunkt, als es noch keine anthroposophischen Arbeitszusammenhänge gab, die sich über eine rein ästhetische Auffassung von Sprache hinaus auch um ein Durchdringen der Sprachstrukturen bemüht hätten und in der Lage gewesen wären, die Erkenntnisse moderner Linguistik zu verarbeiten. Was haben Frege, Wittgenstein, Quine, Chomsky usw. ‹uns› zu sagen und wie können wir ihre Erkenntnisfortschritte aus anthroposophischer Sicht verstehen und uns zunutze machen?

Magdalena Zoeppritz 1958 in Paris, Foto: Holger Bau

Magdalena Zoeppritz fand sich in der Arbeitsgruppe von Heinz Zimmermann zur Sprache Rudolf Steiners wieder, arbeitete mit Rudi Lissau an der Veröffentlichung seines Manuskripts über Sprache und stand in enger Verbindung mit Vivian Law in Großbritannien, deren Buch ‹The History of Linguistics in Europe› – eine der bedeutendsten anthroposophischen Publikationen über Sprache – sie ins Deutsche übersetzte. Sie begründete die Grammatikgruppe innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft (u. a. mit Magda Maier, Erika Dühnfort, Hermann Berger) und war von Anfang an am sprachwissenschaftlichen Kolloquium der Sektion für Schöne Wissenschaften beteiligt. ‹Beteiligt› klingt allerdings untertrieben angesichts dessen, was sie dort bewirkte. Vieles, was jahrelang unmöglich zu sagen war, Themen, die niemand auch nur mit spitzen Fingern anfassen wollte, brachte sie hier auf den Tisch. In den Plena wirkte sie anfangs mitunter schroff, für manche vielleicht auch verletzend, aber wenn der erste Gedanke aus ihr herausgebrochen war, besann sie sich und unternahm bedachtsamere Versuche, zu sagen, was sie ausdrücken wollte. Es war eine leidvolle Erfahrung für sie, wenn ohne Sach- und Fachkenntnis leichtfertig über Sprache geurteilt oder wenn Rudolf Steiner in Gegensatz zur ‹Wissenschaft› gebracht wurde. Einmal schrieb sie: «In jeder Tageszeitung wird über Sprache geredet, vor dem Hintergrund einer Allgemeinbildung, die so gut wie nichts von der sprachwissenschaftlichen Entwicklung aufgenommen hat. Das verleitet zu der Annahme, man könne auf diese Allgemeinbildung aufbauen […]. Anders als in der Physik oder in der Psychologie, deren Ergebnisse meist einen Weg in die Allgemeinbildung finden, besteht für die Sprachwissenschaft offenbar nicht das Gefühl, man müsse sich immer mal wieder informieren. Jeder verbindet inzwischen etwas mit den Wörtern ‹Ödipuskomplex› oder ‹Relativitätstheorie›, während ‹Syntax› und ‹Phonologie› erklärungsbedürftig sind. Um eine Vorstellung von dem Ausmaß der Diskrepanz zu vermitteln: Für die Sprachwissenschaft ist die Erde bereits rund, während die Allgemeinbildung meint, die Erde sei flach.» (Aus einem Vortrag im Juni 1996)

Es war eine leidvolle Erfahrung für sie, wenn ohne Sach- und Fachkenntnis leichtfertig über Sprache geurteilt oder wenn Rudolf Steiner in Gegensatz zur ‹Wissenschaft› gebracht wurde.

Magdalena Zoeppritz wuchs in Stuttgart und Hamburg auf, war Waldorfschülerin und studierte Anglistik, Amerikanistik, etwas Slawistik und vor allem Sprachwissenschaft in Hamburg, Berlin und in den USA an der Southern Illinois University und der Stanford University in Kalifornien. Hier begegnete sie einigen der bekanntesten Linguisten der Gegenwart, Chomsky, Ferguson, Greenberg und anderen. Nach einigen Jahren wissenschaftlicher Tätigkeit an verschiedenen Universitäten fand sie den Beruf, den sie bis zu ihrem Ruhestand ausüben sollte. Es war ein Arbeitsgebiet, das in den 1960er- und 1970er-Jahren, als noch niemand vom Internet sprach oder wusste, was eine E-Mail ist, als höchst fragwürdig, vielleicht sogar verrufen galt. Sie wurde nämlich Computerlinguistin bei IBM. Und das als Frau in einer männerdominierten Branche! Noch dazu als Anthroposophin! Ihr tabellarischer Lebenslauf ist voller verwunderter Sottisen über diese merkwürdige Konstellation. Aber es war wohl eben dieses technisch-akademische Umfeld, wo sie mit ihrem scharfen Blick für Sprachstrukturen grammatische Beschreibungen noch weiter verfeinern lernte und auf Forschungsarbeiten aufmerksam wurde, die in der Bearbeitung irgendeines Problems zu weiterführenden Ergebnissen gekommen waren. Zahlreiche wissenschaftliche Publikationen zeugen von ihrer Arbeit aus dieser Zeit.

In ihren letzten Jahren konnte man Magdalena Zoeppritz erleben, wie sie in der Gesprächsrunde ein soeben gehaltenes Referat über schwierige Zusammenhänge freundlich lächelnd in zwei Sätzen zusammenfasste, wobei sie wie nebenbei die für das jeweilige Thema wesentlichen Autoren und Fachbegriffe einflocht. Die abgelegensten Aufsätze zitierte sie, als lägen sie gerade vor ihr auf dem Tisch. Jedes Jahr gab sie eine Neuauflage ihrer Bibliografie ‹Anthroposophische Veröffentlichungen zur Sprachbetrachtung› heraus, in der neben Rudolf Steiners Werk alles erfasst war, was nur irgendwie mit Sprache zu tun hatte, auch aus den Bereichen Pädagogik, Kunst, Philosophie. Diese Bibliografie, zuletzt auf zweihundert Seiten angeschwollen, war für sie aber nicht bloß eine Aneinanderreihung von Autoren und Titeln. Sie kannte das meiste!

So erinnern wir Magdalena Zoeppritz als einen Menschen, der sich in ganz ungewöhnlicher und seltener Intensität für das Erkenntnisstreben anderer interessierte und es zu würdigen wusste. Das galt auch für die Menschen um sie herum. Jeden, der bei ihr anfragte, versorgte sie bereitwillig mit einschlägiger Literatur. Dabei begegnete man auch ihrer Warmherzigkeit und Großzügigkeit, denn stets verweigerte sie für Bücher oder aufwendig hergestellte Kopien die Annahme eines Kostenbeitrags. Ja, sie entschuldigte sich geradezu, wenn sie dem Interessenten das Gewünschte nicht zeitnah und vollständig per Post oder E-Mail zur Verfügung stellen konnte. Ein neues Buch, das sie sich gerade gekauft hatte, hatte sie schnell weiterverschenkt, bevor sie selbst dazu gekommen war, hineinzuschauen.

Magdalena Zoeppritz 2014 in Kassel, Foto: Frauenrat, Arbeitszentrum Frankfurt.

Wenn man Magdalena Zoeppritz mit irgendeinem Anliegen im Alltag ‹erwischte›, war man allerdings erstaunt, dass sie sich keineswegs nur mit Sprache beschäftigte. Abgesehen davon, dass sie jahrelang viel gemalt hatte, gab es für sie noch manche andere Arbeitsfelder in den anthroposophischen Zusammenhängen: den Zweig, die Konstitutionsfrage, den Frauenrat am Arbeitszentrum Frankfurt oder die Mathematisch-Astronomische Sektion, die für sie ein ebenso wichtiges Interessengebiet war wie die Sektion für Sozialwissenschaften oder die Musiktagungen. Aktive Hausfrau und praktische Helferin in ihrer Nahumgebung in Dossenheim bei Heidelberg war sie auch, sodass man gelegentlich erfuhr, dass sie gerade statt an einer geplanten Textarbeit beim Einkochen oder Kuchenbacken für jemanden war. Gerne entschuldigte sie sich für eine liegen gebliebene Arbeit mit der für sie so typischen Selbstironie, dass sie mal wieder zu ‹faul› gewesen sei, ihre ‹Hausaufgaben› zu machen. «Kohlen auf mein Haupt», pflegte sie dann zu sagen.

Wie viele ihrer Arbeitsvorhaben liegen geblieben sind, kann wohl kaum jemand ermessen. In Bezug auf das schier unendliche Arbeitsfeld Anthroposophie und Sprache sprach sie von einer ‹Landkarte› der Themen und Aufgaben, vor denen wir stehen. Diese Landkarte hat sie jedoch, soweit bekannt, nur in Vorträgen und Manuskripten oder im Index der genannten Bibliografie ansatzweise skizziert. Viele ihrer Manuskripte, an denen sie teilweise lange gearbeitet hatte, blieben bislang unveröffentlicht oder wurden nur im kleinen Kreis verbreitet.

Der Fortgang von Magdalena Zoeppritz wirkt wie eine Aufforderung, dass sich nun andere dieser ‹Landkarte› annehmen und ihre wissenschaftliche Pionierarbeit zu einer Befruchtung der Praxis weiterführen. Angesichts der Sprachprobleme unserer Zeit scheint es höchste Zeit, dass gerade in anthroposophischen Zusammenhängen, zum Beispiel in der Waldorfausbildung, mehr entwickelt werden muss als die zitierte ‹Allgemeinbildung›, die glaubt, Sprache zu kennen und darüber urteilsfähig zu sein. Mit einem solchen Rüstzeug ist es weder möglich, in die spirituellen Hintergründe des Sprachwirkens einzudringen, in die ‹Syntax›, wie Magdalena Zoeppritz nüchtern zu sagen pflegte, noch zu verstehen, wie die Maschine funktioniert, die sich heute immer mehr der Sprache bemächtigt. Dass Erkenntnis von beidem entsteht, dass wir fähig werden, beides zusammen zu sehen und nicht hilflos einer unverstandenen Sprachentwicklung gegenüberstehen, war das Lebensstreben von Magdalena Zoeppritz, ihre ‹fundamental passion›. 

Print Friendly, PDF & Email

Letzte Kommentare